Es ist abends, um kurz nach neun Uhr Moskauer Zeit. Die Moderatorin von Russlands staatsnahem „Ersten Kanal“ sitzt fast unbeweglich an ihrem Pult und liest die Meldungen in der Hauptnachrichtensendung „Wremja“ (Zeit) ab. Sie berichtet von Trümmern einer ukrainischen Rakete auf Donezk, die die Führung in Kiew später dementieren wird. Sie fasst den Tag von Russlands „Spezialoperation“ in der Ukraine aus russischer Sicht zusammen. Sie will gerade dazu ansetzen, auf westliche Sanktionen einzugehen, als eine blonde Frau ins Studio stürmt. Marina Owsjannikowa, Redakteurin im Sender. Sie hüpft ein wenig nach links, dann nach rechts, rückt ihr Plakat zurecht. „No war“, steht darauf (Kein Krieg). „Stoppt diesen Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Ihr werdet hier belogen“, steht es schwarz auf weiß, in den Ecken finden sich die ukrainische und die russische Fahne. Sie ruft mehrmals „Nein zum Krieg“, im Russland dieser Tage ein Tabu, die Moderatorin spricht unverdrossen weiter. Owsjannikowa will im Bild bleiben – und tut es weltweit noch Stunden später, als von ihr selbst jede Spur fehlt.
Wir haben 2014 nichts gesagt, als der Konflikt im Donbass angefangen hat, wir haben nicht demonstriert, als der Kreml Nawalny vergiftete, wir haben dem antimenschlichen Regime wortlos zugeschaut.
Fünf Sekunden dauert der Auftritt der 44-Jährigen in der Live-Sendung zur Primetime. Ihr Schrei nach Wahrheit wird sogleich mit Bildern aus einem Krankenhaus unterbrochen. Owsjannikowa ist zunächst nicht aufzufinden und taucht erst am Abend des darauffolgenden Tages in einem Moskauer Bezirksgericht auf. Sie soll sich wegen der „Organisation einer nicht genehmigten öffentlichen Veranstaltung“ verantworten. Das ist eine Ordnungswidrigkeit. Ebenfalls, so meldet es die russische Nachrichtenagentur Tass, hätten die Ermittlungsbehörden eine Untersuchung wegen „öffentlicher Verbreitung wissentlich falscher Informationen“ gegen sie eingeleitet. Nach der Einführung des sogenannten „Fake-News-Gesetzes“, wonach die russische Armee nicht zu „diskreditieren“ sei, drohen Owsjannikowa bis zu 15 Jahren Haft. Gestern wurde sie einstweilen zur Zahlung von 30.000 Rubel (rund 250 Euro) verurteilt. Nach Angaben ihres Anwalts drohen ihr aber weiterhin ein Strafverfahren und eine lange Haftstrafe.
In den sozialen Netzwerken wird sie als Friedensikone gefeiert. „Was für eine Tat! Dinge einfach beim Namen zu nennen“, schreibt einer, eine andere meint: „Die Performance dieser Heldin gewährte uns einen Einblick, wie es ist, wenn die eigene Meinung im wichtigsten Sender des Landes zu hören ist.“
Russische Propaganda
Es ist ein ungewöhnlicher Auftritt in einer Sendung, die den Westen stets als Feind darstellt und Russland als den Retter des Friedens. So funktioniert die russische Propaganda: Jedes Ereignis wird umgedreht, die Schuld tragen immer die anderen, die USA gelten als böse, die das großartige Russland mit allen Mitteln in die Knie zu zwingen versuchten. Marina Owsjannikowa kennt diese Mechanismen seit Jahren. Als Mitarbeiterin des Senders hat sie nach ihrem Studium in Krasnodar im Süden Russlands, nicht weit von der Ukraine, täglich propagandistische Nachrichten produziert. „Ich schäme mich dafür, dass ich es zuließ, Lügen über die Fernsehbildschirme zu verbreiten“, sagte sie in einer Videobotschaft, die sie offenbar vor ihrem Live-Protest aufgenommen hatte.
Mit einem Halsband in den Farben der russischen und der ukrainischen Fahne steht sie vor einem Bücherregal und erklärt, dass sie ein Kind dieser Nationen sei. Vater Ukrainer, Mutter Russin, sie selbst ist in Odessa geboren, damals noch ukrainische Sowjetrepublik. Sie wolle nicht mehr stumm sein. „Wir haben 2014 nichts gesagt, als der Konflikt im Donbass angefangen hat, wir haben nicht demonstriert, als der Kreml Nawalny vergiftete, wir haben dem antimenschlichen Regime wortlos zugeschaut“, sagt sie und ruft zum Protest auf. Der Kreml tut die Tat derweil als „Hooliganismus“ ab und sieht die Verantwortung beim Sender.
De Maart
@HTK/ doch, heute den ganzen Tag in allen Medien, gestern bei RTL und beim verlassen des Gerichtes gefilmt...
Und sie ward nie mehr gesehen.