Tageblatt: Herr Stiglegger, was ist eigentlich Body Horror?
Marcus Stiglegger: Body Horror sind Filme, die das Grauen aus der Vergänglichkeit des Körpers beziehen. Der Körper wird auf eine sehr direkte Weise inszeniert in seiner Auflösung oder in seiner Anfälligkeit für Krankheiten oder in seinen Mutationen und Transformationen. Körperhorror ist also eine spezifische, körperbasierte Darstellung des Grauens im Kino.
Muss Body Horror zwangsläufig körperliche Reaktionen hervorrufen?
Es ist relativ schwierig, das verallgemeinernd über Filme zu sagen, denn natürlich reagieren alle Zuschauerinnen und Zuschauer unterschiedlich auf Filme. Ich würde aber tatsächlich davon ausgehen, dass eine bestimmte Darstellung der Auflösung von Körpern das Publikum immer affizieren wird, denn der Körper ist uns selbst ja das Nächste. Wir kommen nicht heraus aus unserem Körper, haben deswegen einen engen Bezug dazu und es ist eigentlich nicht so schwierig für diese Filme, uns auf diese direkte Weise zu erreichen. Filmhistorisch würde ich einen Ur-Moment zitieren, das ist der Schnitt ins Auge in „Un chien andalou“ von Luis Buñuel. Dieser surrealistische Film, der 1929 herauskam, hat damals Stürme der Entrüstung nach sich gezogen, und ich mache die Erfahrung, dass das noch heute funktioniert. Das spricht für mich doch sehr stark dafür, dass das Auge als empfindliches Sinnesorgan – das uns ja mit der Leinwand verbindet – ein Ort ist, an dem das Grauen direkt in uns hineindringt. Ich denke, das ist etwas, worauf viele dieser Filme auch später in der Filmgeschichte immer wieder rekurrieren, speziell nach den 60er-Jahren, weil Filme da durch die Lockerung der Zensur das auch direkter machen konnten. Regisseure wie Herschell Gordon Lewis trieben die sogenannte Splatter-Ästhetik voran, die man als Vorform des Körperhorrors betrachten könnte. Mit „Texas Chainsaw Massacre“ haben wir etwas, das man als „Terrorkino“ bezeichnet, wo wirklich diese Terrorerfahrung auf den Körper und die Psyche einwirkt und auf das Publikum übertragen wird. Vieles ist nachhaltig durch Erfahrungen aus dem Vietnamkrieg beeinflusst worden, die einige dieser Filmemacher mitgebracht haben. Tom Savini als Maskenbildner und späterer Regisseur zum Beispiel – da ist es so, dass ohnehin eine Sensibilisierung für die Verletzlichkeit des Körpers nochmal für das Publikum offensichtlicher war.
Heute werden besonders die Filmemacherinnen Julia Ducournau und Coralie Fargeat als Nachkommen der Body-Horror-Ikone David Cronenberg wahrgenommen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Ich sehe definitiv Verbindungen zwischen „The Substance“ und einigen Filmen von David Cronenberg. Fargeat ist bemüht, ihre feministisch motivierte Kritik in Bildmetaphern zu packen und Ideen wie Alter und Jugend, Mutation und Ideal sozusagen als Gegensatzpaare gegeneinander auszuspielen. Ich finde aber, dass „The Substance“ auf eine sehr plakative Weise diese Dinge verwendet und ausstellt, auch zu dieser technoiden, treibenden Musik, was etwas sehr Affirmatives dazu hat. Das ist ein Unterschied zu Cronenberg, bei ihm hat man doch eher das Gefühl, dass da ein „twisted mind“ dahintersteht, das die Dinge nicht ganz wörtlich verstanden wissen will. Bei „The Substance“ habe ich das Gefühl, das ist absolut wörtlich gemeint. Das Alter ist der totale Verfall und die vollkommene Entstellung. Dies hat seine innere Logik in „The Substance“, es ist aber ein wesentlich deutlicheres Kino als das von David Cronenberg. Bei Coralie Fargeat beginnt das auch in ihrer Interpretation des Rape-Revenge-Motivs in dem Film „Revenge“, das ja ein ähnliches feministisches Modell ist: sexuelle Ausbeutung, Vergewaltigung, eine Umkehrung der Verhältnisse, eine Selbstermächtigung, weibliches Empowerment. Natürlich ist das überhöht und aufgeladen und in allen Varianten durchgespielt. Fargeat ist schon eine sehr audiovisuelle Regisseurin, die ihre Mittel kennt, sie hat eben die Tendenz, das ganz deutlich zu machen, es geht ihr vor allem um diese drastische Oberfläche.
Ich habe oft das Gefühl, dass der von Laura Mulvey in den Siebzigerjahren am klassischen Hollywoodkino als Kritik erprobte Begriff „male gaze“ zu leichtfertig auf aktuelle Beispiele übertragen und dann zu ausschließlich benutzt wird
Während Cronenberg sich seine Filmwelten aus dem Inhalt heraus erschließt, geht Fargeat den umgekehrten Weg und baut auf der Form auf, doch wie geht Julia Ducournau vor?
Ich habe „Revenge“ und „The Substance“ als sehr formalistische Filme empfunden. Bei ihr ist die Form die Substanz, das unterscheidet Fargeat meines Erachtens auch von Ducournau, weil Ducournau ja eine Schauspielerregisseurin ist, was mir bei Fargeat nicht so präsent ist – sie besetzt ikonisch. Demi Moore und Margaret Qualley erfüllen genau das, was sie dort repräsentieren sollen, während Ducournaus Filme sperriger sind. Die Protagonistinnen in „Raw“ und „Titane“ sind jeweils ambivalentere Figuren, die mehr Interpretationsspielraum lassen, um das Ganze in andere Richtungen weiterzudenken. Ich finde zum Beispiel, dass Ducournau hoch interessiert ist an der männlichen Figur, die Vincent Lindon in „Titane“ darstellt. Das ist ein sehr berührendes Porträt eines Mannes, der nicht altern möchte, der das Altern aufhalten möchte, es ist aber eine tragische Figur, die Steroide oder Anabolika spritzt, Zusammenbrüche erleidet. Das ist eine ähnliche Strategie, wie die, die man in „The Substance“ hat – die Selbstoptimierung um jeden Preis. Ducournau entwirft aber ein differenzierteres Geschlechterbild, das scheint mir in „The Substance“ sehr gradlinig gedacht. Ich habe auch das Gefühl, dass Fargeats Filme „Revenge“ und „The Substance“ lesbar sind als ein männerfeindlicher Feminismus, während Ducournau ein bizarres Interesse am Menschen an sich teilt – und das verbindet sie viel enger mit Cronenberg als Fargeat.
In Bezug auf beide Regisseurinnen wird ebenfalls gerne auf den „male gaze“ von Laura Mulvey referiert.
Zunächst möchte ich filmwissenschaftlich betonen, dass es viel mehr Blickstrategien im Kino gibt als „male gaze“ und möglicherweise „female gaze“. Ich habe oft das Gefühl, dass der von Laura Mulvey in den Siebzigerjahren am klassischen Hollywoodkino als Kritik erprobte Begriff „male gaze“ zu leichtfertig auf aktuelle Beispiele übertragen und dann zu ausschließlich benutzt wird. Ich sehe bei Fargeat und Ducournau unterschiedliche Blickstrategien, die teils gegeneinandergestellt, teils ad absurdum geführt werden, weil die Zurschaustellung der Körper in den Aerobic-Videos in „The Substance“ ja eine Parodie auf den „male gaze“ ist – es ist eine derartige Übererfüllung, dass man darüber lachen muss. Ich würde dagegenstellen: „Titane“ von Ducournau ist wesentlich bewusster in dieser Montage unterschiedlicher Blicke. Der Film ist da ambivalenter und virtuos im Einsatz unterschiedlicher Blickstrategien. Ich würde anstatt „male gaze“ „objectifying gaze“ sagen – und da kann man noch viel weiter gehen. „The Substance“ hat das auch, aber nicht so weitgehend wie „Titane“, würde ich sagen.
Was ist „male gaze“?
„Male gaze“ beschreibt die filmische Darstellung von Frauen als (Lust-)Objekt durch den männlichen Blick. Frauen werden dabei auf ihren Körper reduziert und sollen primär das Begehren heterosexueller Männer bedienen. Die britische Filmkritikerin Laura Mulvey prägte den Begriff in den 1970er-Jahren. „Female gaze“ steht hingegen für die komplexe Darstellung weiblicher Charaktere im Film, unabhängig vom „male gaze“.
Zur Person
Marcus Stiglegger (Prof. Dr.) ist Film- und Kulturwissenschaftler an der Universität Freiburg und Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen, u.a. „Terrorkino: Angst/Lust und Körperhorror“ (2010, Bertz u. Fischer), „David Cronenberg“ (2011, Bertz u. Fischer). Seit 2019 betreibt er regelmäßig den Podcast „Projektionen-Kinogespräche“, der an der Schnittstelle zwischen Filmkritik und Filmwissenschaft ansetzt. Mehr Infos: stiglegger.de
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