Dienstag23. Dezember 2025

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Für „Palme d’Or“ nominiert Luxemburgische Koproduktion „Youth“ von Wang Bing läuft im Großherzogtum an

Für „Palme d’Or“ nominiert  / Luxemburgische Koproduktion „Youth“ von Wang Bing läuft im Großherzogtum an
Szene aus „Youth“ von Wang Bing Quelle: Les Films Fauves

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„Youth“ von Wang Bing läuft diese Woche in den nationalen Kinos an. Ein Blick auf die luxemburgische Koproduktion, die 2023 in Cannes für die „Palme d’Or“ nominiert war.

Ohne etwas „Sitzfleisch“ und Bereitschaft, einen Film als ganzheitliche Erfahrung anzunehmen, wird man nicht glücklich in den Filmen dieses Regisseurs. Neun Stunden dauerte bereits sein Debüt „West of the Tracks“ 2002, vierzehn Stunden „Crude Oil“ 2008 oder gar „15 Stunden“, ein Dokumentarfilm, der in einer einzigen Einstellung die fünfzehnstündige Produktionseinheit in einer zentralisierten Bekleidungsfabrik in China zeigt, in der etwa 300.000 Wanderarbeiter beschäftigt sind. Der Film lief 2017 bei der documenta 14.

Sein neuer Film „Youth“ („Jugend“), der in dieser Woche in Luxemburg Premiere feiert, kommt immerhin nur mit dreieinhalb Stunden aus. Auch das sprengt noch die Form des üblichen Kinobesuchs, und diese Aussage gilt für das Werk von Wang Bing in jeder Hinsicht. Dabei ist es gar nicht so, dass dieser Regisseur sein Publikum auf die Folter spannen oder in anderer Weise quälen möchte – einer seiner letzten Filme, „Man in Black“, ein sehr persönliches Portrait von Wang Xilin, dem wichtigsten Komponisten klassischer Musik im Gegenwartschina, brauchte nur eine Stunde Filmzeit und war doch von einer derart unerhörten Dichte, dass er mehr erzählte, als manch anderer in drei Spielfilmen. „Jedes Thema braucht seine eigene Zeit“ – dies ist eine der ersten Einsichten in der Begegnung mit den Werken dieses sehr besonderen Regisseurs.

Das nackte Leben

Die bislang 26 Filme dieses Regisseurs lassen sich grob in drei Typen unterteilen. Das eine und bekannteste sind die gewissermaßen strukturalistischen Filme, in denen Wang in langen Bögen, großem Radius und Rhythmen der Wiederholung bestimmte Orte und Milieus abzirkelt: ländliche Regionen, Industriegebiete, Fabriken und Arbeitswelten, Mondlandschaften des modernen China. Oft drehen sie sich um Energiegewinnung wie „Crude Oil“ 2008, „Coal Money“ 2009; es geht darin auch um die Einwanderer und Wanderarbeiter, die an diesen Orten tätig sind, oder um Bauern und das Aufeinanderprallen traditioneller und moderner Lebensstile, seltener um Institutionen.

Diese Filme haben sprechende Titel wie „Bitteres Geld“ oder „Bis der Wahnsinn uns scheidet“, über eine Nervenklinik. Die zweite Gruppe sind die intimen Portraits von sehr konkreten Familienverhältnissen oder gar einzelnen Menschen: „Three Sisters“ (2012), „Fathers and Sons“ (2014), „Fang Xiuying“ (2017) über eine demente Frau im Altersheim. Auch hier findet der Regisseur im Einzelfall das Allgemeine und Grundsätzliche.

Auge für „das nackte Leben“: Aufnahme aus Wang Bings „Youth“
Auge für „das nackte Leben“: Aufnahme aus Wang Bings „Youth“ Quelle: Les Films Fauves

Während hier das Politische eher indirekt im Blick des Regisseurs zu finden ist, bildet die dritte und kleinste Gruppe seiner Filme die direkt politischen Werke, zumeist Auseinandersetzungen mit historischen Ereignissen wie „The Ditch“ von 2010, in dem er die Erlebnisse eines Mannes während der Kulturrevolution zum Leben erweckt. Das Thema, das alle Filme Wang Bings gemeinsam haben, ist das nackte Leben: Es sind die Zurückgebliebenen, die im rasenden Fortschritt Chinas auf der Strecke Gebliebenen, die Entrechteten und Erniedrigten des modernen China.

Wenn sich überhaupt etwas gegen Wang Bings Filme einwenden lässt, dann, dass er die Erwartungen erfüllt, die man im Westen mit kritischem chinesischen Kino verbindet. Dass er wenig überrascht: Er zeigt uns nicht die modernen Seiten von China, er findet auch nicht die eher positiven Grautöne im Schwarz-Weiß der unerbittlich porträtierten chinesischen Wirklichkeit.

Ein Solitär

Wer ein bisschen recherchiert, kann online schnell entdecken, dass Wang Bing der „Sechsten Generation“ des chinesischen Kinos zugerechnet wird, das seine Regiestile einstweilen in Generationen unterteilt. Das trifft zweifellos zu, wenn man ganz nüchtern von seinem Geburtsjahr 1967 ausgeht – tatsächlich sind die in den 60er Jahren Geborenen diejenigen Filmemacher, die nach der goldenen „Fünften Generation“ von Zhang Yimou und Chen Kaige, die ab 1988 mit Filmen wie „Rotes Kornfeld“ und „Lebewohl, meine Konkubine“ das chinesische Kino der Welt öffneten, ihren Weg machen. Die sechste Generation ist direkter, dokumentarischer und die kleinen Digitalkameras, die seit Ende der 90er Jahre Bilder in Kinoqualität kreieren, ermöglichen es ihnen, im „Guerilla-Stil“ spontan und ohne Drehgenehmigungen zu arbeiten und dadurch politischere und kritischere Filme zu machen.

Diese ab Mitte der 60er Jahre Geborenen haben die Exzesse der Kulturrevolution nicht mehr am eigenen Leib erfahren, sie wurden in der ersten Aufbruchzeit Chinas ab 1980 unter Deng Xiao Ping erwachsen. Das Schlüsselereignis dieser Generation war der 4. Juni 1989, als vor fast 26 Jahren die Studentenproteste auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen wurden. Wang Bing war da gerade 22, also genau im Alter der Studenten. Doch im Gegensatz zu den bekanntesten Vertretern der Sechsten Generation, zu Jia Zhang-ke und Lou Ye, ist Wang Bing ein Spätzünder und dreht auch keine direkten politischen Kommentare. Insofern ist er eher ein Solitär unter seinen Generationsgenossen.

Verblasste Träume

„Youth“ („Jugend“) ist als Tetralogie angelegt – von der bisher drei Teile fertiggstellt wurden – und verbindet Elemente vieler früherer Filme. Der erste Teil „Youth (Spring)“ hatte vor knapp zwei Jahren im Wettbewerb von Cannes Premiere und taucht ein in die Sweatshop-Hochburg Zhili, sieht in den kargen, teilweise von Familien geführten Textil-Ateliers, die sich wie Legebatterien in vielstöckigen Arbeitshäusern aneinander reihen, den jungen Näharbeitern bei ihrem Schuften im Akkord zu. Immer wieder nimmt Wang seine Kamera dabei in die Hand, und folgt ihnen auf den Fersen – ein Markenzeichen seiner Filmästhetik –, wenn sie die heruntergekommenen Außengänge in dieser reinen Arbeitsstadt entlanggehen, schwere Stoffballen auf der Straße tragen, sich im Wohnheim erschöpft fallen lassen und dennoch versuchen, irgendwie ihre Jugend zu leben.

Den Arbeitenden auf den Fersen: Der Regisseur Wang Bing hält Alltagsszenen fest
Den Arbeitenden auf den Fersen: Der Regisseur Wang Bing hält Alltagsszenen fest Quelle: Les Films Fauves

Das ständige ohrenbetäubende Surren der altmodischen Nähmaschinen begleitet diese Bilder; Ruhe gibt es ist nur, wenn sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihre (Massen-)Schlafsäle zurückziehen, Instantnudeln aus Plastikgeschirr in sich hineinschlürfen, um den größten Hunger zu stillen. Aber der Titel ist trotz allem keineswegs als Zynismus gemeint: Es gibt auch in diesem oberflächlich als Alltagshölle erscheinenden Leben tatsächlich das kleine wie das große Glück. Die Jungen gehen aus, trinken, sehen Filme, hören Musik, sie flirten, sie erzählen sich ihre Träume von jenem Leben, das sie sich erhoffen. Ihren Verdienst schicken sie nicht nur nach Hause zu ihren armen Familien. Sie kaufen Billigklamotten – die von ihresgleichen im Akkord gefertigt wurden. Der Kreis schließt sich zu einem System, das sich aus sich selbst heraus ernährt. Der Film zeigt ein „Perpetuum Mobile“ des Hyperkapitalismus, in dem Fast Fashion und Wanderarbeit verschmelzen. Wang zeigt eine Bestandsaufnahme der Gegenwart, die er als Zyklus der vier Jahreszeiten konzipiert hat – die moderne Variante des „Sähen und Ernten“, der Schöpfung und Geburt, des modernen Kreislaufs aus Produktion und Konsumption. Ein großes, originelles, langzeitdokumentarisches Kino aus China, das auch mithilfe einer luxemburgischen Koproduktion („Les Films Fauves“) entstand.