„Noch immer keine Entwarnung?“, fragt Soja ihren jüngsten Sohn durch die Autoscheibe. Achtem sitzt hinten in dem altersschwachen braunen Schiguli mit dem Nummernschild „AK“ der Autonomen Ukrainischen Republik und schüttelt besorgt den Kopf. Vor über einer Stunde hat die tatarische Familie ihren Lieblingsonkel zur Grenze mit der seit Frühling 2014 russisch besetzten Halbinsel Krim bei der Ortschaft Tschongar gefahren.
Den ukrainischen „Kontrollpunkt Einreise-Ausreise“ (KPVV) hat Sojas Bruder schon lange passiert. Auch die drei Kilometer zu Fuß durch die Lagunenlandschaft des salzig-modrigen Sywasch sind zurückgelegt. Nun steht Achtems Onkel am russischen Grenzübergang, und dies lässt die Tatarenfamilie erschauern. Achtems Vater Ildar gibt sich wortkarg: „Wir warten, bis wir sein Okay haben, dass alles gut gelaufen ist, dann fahren wir wieder nach Hause.“ Zu Hause, für Ildar, seine Ehefrau Soja und Sohn Achtem ist das die Gebietshauptstadt Cherson, rund 150 Kilometer Richtung Nordwesten im ukrainischen Hinterland, wo die Familie als Binnenflüchtlinge lebt. Wie viele Mitglieder der zumeist Ukraine-freundlichen, turksprachigen Minderheit der Tataren haben auch Achtems Eltern nach der russischen Besetzung vor fünf Jahren das Weite gesucht; sein Onkel jedoch sei in Feodosia auf der Krim geblieben.
Lieber schweigen über den „freiwilligen“ Wegzug
Zusammen mit dem Onkel waren seine Eltern erst Anfang der Neunzigerjahre aus der stalinistischen Verbannung der Krimtataren nach Zentralasien zurück in die Heimat Krim gekehrt, dort wo die Tataren 1442 bis 1783 ein eigenes Chanat, eine Art Königreich hatten. Gepiesackt vom russischen Geheimdienst FSB, sind Achtems Eltern ein paar Monate nach der russischen Krim-Besetzung „freiwillig“ weggezogen. Wie es genau dazu kam, will die Tataren-Familie aus Angst vor der langen Hand Moskaus nicht erzählen.
Er könne nichts zur russischen Grenzkontrolle sagen, wehrt ein ukrainischer Grenzschutzsoldat ab. „Wir haben überhaupt keinen Kontakt zu den Russen“, erklärt er. Der mit einer Kalaschnikow bewaffnete junge Mann im Tarnanzug verweist dann darauf, dass er eh nicht mit der Presse sprechen dürfe. Die Demarkationslinie zur besetzten Krim ist eine Sonderzone, hier steht Kiew den Moskauer Truppen direkt gegenüber, geschossen wird allerdings nur sehr selten.
Wir warten, bis wir sein Okay haben, dass alles gut gelaufen ist, dann fahren wir wieder nach Hause
Amerikanische Satellitenaufnahmen haben jedoch im April eine große russische Truppenkonzentration wenige Kilometer südlich des Kontrollpunkts „KPVV Tschongar“ nachgewiesen. Insgesamt sollen die russischen Besatzungstruppen auf der Krim auf rund 40.000 Soldaten aufgestockt worden sein. Eine gleichzeitige Truppenkonzentration an der Ostgrenze der Ukraine bei der russischen Stadt Woronesch sowie an der Grenze zu dem von pro-russischen Separatisten beherrschten Donbass haben die Kriegsangst angeheizt. Moskau wiederum kündigte gewöhnliche Manöver an, entsandte zusätzliche Kriegsschiffe vom Kaspischen ins Schwarze Meer rund um die Krim und bestand darauf, seine Soldaten im eigenen Land dort konzentrieren zu dürfen, wo es wolle. Man führe nichts Böses im Schilde, wenn jedoch Kiew diese Truppen provoziere, könnte es um die Ukraine geschehen sein, drohte der Kreml.
Die NATO und Washington versicherten Kiew nach dieser Drohung noch im April ihre Solidarität, und US-Außenminister Antony Blinken unterstrich dies am Donnerstag während seines ersten Ukraine-Besuchs. „Die USA stehen felsenfest hinter der territorialen Integrität der Ukraine“, versicherte Blinken dem ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenski. Allerdings ist die Ukraine nicht einmal Mitglied des NATO-Partnerschaftsprogramms für den Frieden (PFP), dem selbst die Schweiz angehört, und ein NATO-Beitritt kommt allerfrühstens per 2034 in Betracht. Am Donnerstag kündigte Blinken in einem Interview mit „Radio Free Europe“ die Prüfung neuer US-Waffenlieferungen an.
Von der stetigen latenten Angst vor einer Invasion
Das mag beruhigend klingen, doch wie immer, wenn Russland an den Grenzen zur Ukraine Truppen zusammenzieht, bricht sich die latente Angst vor einer Invasion des Nachbarn mit seiner mindestens zehnfachen Heeresstärke bahn. In der Südukraine ist dann auch schnell die Idee einer russischen Landverbindung zwischen der separatistischen Ostukraine und der Halbinsel Krim in aller Munde. Russische Truppen müssten rund 400 Kilometer zwischen den Hafenstädten Mariupol im Süd-Donbass und Cherson erobern. Eine solche Eroberung würde auch das dringendste Problem der besetzen Krim, die Versorgung mit Süßwasser, lösen. Denn etwas östlich von Cherson beginnt der ab 1962 noch zu Sowjetzeiten erbaute „Nord-Krim-Kanal“, der Flusswasser des Dnipro in den Norden der Krim und von dort bis zur Hafenstadt Kertsch leitet, dort wo Wladimir Putin im Mai 2018 eine neu erstellte Brücke aufs russische Festland eröffnen konnte. Dorthin fährt inzwischen in 33 Stunden ein Nachtzug aus Moskau, der im Sommer täglich sonnenhungrige Russen auf das seit dem 19. Jahrhundert in höchsten Tönen besungene Touristenparadies Krim transportiert.
In Tschongar, wo die Züge aus Moskau vor der russischen Besetzung der Krim eine viel kürzere Brücke über den Lagunensee Sywasch überquerten, ist hingegen an diesem Freitagmorgen fast tote Hose. Ein halbes Dutzend Armenier warten verzweifelt auf Taxi-Kundschaft in die 40 Kilometer entfernte ukrainische Bahnstation Nowoaleksejewka. „Die Russen lassen wieder mal keinen in die Ukraine durch“, flucht der bärtige Ashot, ein Armenier, der vor der Krim-Krise von 2014 dort, wo heute der ukrainische Kontrollpunkt steht, von April bis Oktober getrocknete Fische an die Touristen verkauft hatte. „Das Geschäft war viel besser damals als das Taxifahren heute“, trauert der Armenier den alten Zeiten nach, als die Halbinsel Krim (knapp zehnmal so groß wie Luxemburg) nach der Unabhängigkeit der Ukraine von 1991 ein autonomes Verwaltungsgebiet war, das alle Völker der ehemaligen Sowjetunion gerne für Ferien besuchten.

Knapp zwei Dutzend Fußgänger und etwa zehn Pkws überqueren zu dieser Jahreszeit pro Stunde diese Grenze, wobei die Covid-Einreisebeschränkungen den Verkehr neben dem stillen Kriegszustand weiter drosseln. Russland verlangt für die Einreise einen negativen PCR-Test; die Ukraine, dass die nationale Quarantäne-Applikation aufs Smartphone geladen wird. Wer nicht in die zehntägige Selbstisolation will, kann gleich hinter dem „KPVV Tschongar“ beim Roten Kreuz kostenfrei einen PCR-Test machen. Da allerdings am ukrainischen Kontrollpunkt an diesem Morgen das Internet ausgefallen ist, werden die Einreisenden in Fünfergruppen von bewaffneten Grenzschützern an einem halb fertiggestellten Tankstellenrestaurant vorbei ins Rotkreuz-Gebäude geleitet. „Das Rote Kreuz hat Strom und Internet, wir wieder einmal nicht“, erklärt der junge Grenzschützer, der eigentlich nicht mit der Auslandspresse sprechen darf.
Gleich neben dem KPVV hat die ukrainische Armee ein kleines Heerlager mit Wachturm errichtet. Von dort muss über den Lagunensee hinweg jede russische Truppenbewegung sichtbar sein, wenn kein Nebel die natürliche Grenze zwischen Festland und Halbinsel verwischt. Auf der Fahrt der ukrainischen Demarkationslinie entlang durch weite Steppen und abgelegene Dörfer in westlicher Richtung zum „KPVV Kalantschak“, dem zweiten Übergang ins russisch besetzte Gebiet, sind keine ukrainischen Soldaten zu beobachten. Nur wenige Bauern leben direkt an der Lagune. Die Zeit scheint stehen geblieben.
Anspannung an der Landverbindung
Etwas mehr Anspannung und auch Truppenpräsenz ist rund um den westlichen Krim-Kontrollpunkt Kalantschak zu spüren, der auf der einzigen, immerhin rund sechs Kilometer breiten Landverbindung auf die Halbinsel Krim liegt. Hier wurden erst kürzlich neue Panzersperren und Artillerieunterstände errichtet. Immer wieder sind Befestigungen mit Truppen auf der Steppe mit Stacheldraht umzogen. Zivile Wegmarken werden gerne mit den ukrainischen Nationalfarben Hellblau-Gelb markiert.
Völlig unscheinbar erscheint auf den ersten Blick dagegen jener 2017 fertiggestellte Damm aus Stahlbeton, der die Süßwasserseeuhr auf die Halbinsel Krim aus dem ukrainischen Hinterland unterbindet. Rund 500 Meter sind es von hier noch nach „Russland“ gemäß Moskauer Lesart, oder dem „temporär besetzten Gebiet Krim“, wie die Halbinsel von der ukrainischen Regierung bezeichnet wird. Satellitenaufnahmen zeigen neben der russischen Truppenkonzentration vor allem eines: dass die Krim wegen Wassermangels immer mehr vertrocknet.
Viele westliche Diplomaten in Kiew scheinen sich im informellen Gespräch einig, dass der mit diesen und einem weiter oben liegenden zweiten Damm gesperrte „Nord-Krim-Kanal“ in seiner strategischen Bedeutung nicht zu unterschätzen sei. Der Wassermangel auf der Krim stelle für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Problem dar, das ihn im Extremfall vielleicht gar zu einer militärischen Intervention Richtung Cherson und zum ukrainischen Fluss Dnipro verleiten könnte, heißt es. „Ach was, alleine wegen des Wassers werden uns die Russen nicht angreifen“, widerspricht hingegen Valerij Brysenskij, Vorsitzender des Lokalparlaments von 15 Kanalgemeinden. „Angst haben wir trotzdem“, fügt der bedächtige Mittvierziger hinzu.
De Maart
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