Irgendwann steht Marianne Schwenk (73) in Wasserbillig und findet die Bibliothek nicht mehr. Dabei kennt sie das Gebäude nur zu gut. Sie selbst stöbert gerne in den Büchern und die von ihr mitgegründete Lesegruppe findet dort regelmäßig statt. Das macht sie stutzig. Ihrem Sohn Benjamin (49) fallen schon länger Veränderungen an seiner Mutter auf.
Die beiden leben seit fünf Jahren in einer Wohngemeinschaft zusammen. Der IT-Spezialist arbeitet seit 2011 in Luxemburg. In der Doppelhaushälfte direkt an der Mosel ist genug Platz. 2020 holt er seine Mutter, da bereits Rentnerin, aus Köln nach. Die ausgebildete Übersetzerin für Spanisch und Englisch, die lange in der Erwachsenenbildung unterrichtet hat, ist alleinstehend.

Seine Beobachtungen münden in eine Einsicht. „Hinter ihrer Vergesslichkeit steckt noch etwas anderes“, sagt Benjamin Schwenk. Es ist mehr als die „Tütteligkeit“, die dem Alter nachgesagt wird. Er spürt, da kommt etwas auf sie beide zu. Marianne Schwenk konsultiert einen Arzt. Am Ende eines anschließenden Untersuchungsmarathons steht die Diagnose Alzheimer.
Alzheimer verändert das Leben
Das war vor eineinhalb Jahren. Marianne Schwenk nimmt es souverän. „Ich bin kein Opfer“, sagt sie. „Alzheimer ist eine Krankheit und trotzdem fühle ich mich nicht alt und krank.“ Sie ist von jeher aktiv. „Auf das normale Rentnerleben hatte ich noch nie Lust“, sagt sie. Lesekreis, Nordic-Walking-Gruppe, Bastelgruppe, Lesen und Stricken: Nach der Diagnose macht sie weiter wie bisher. Aber sie grübelt.
Was wird mit ihr passieren? Wie entwickelt sich die Krankheit? Wie lange kann sie noch autonom leben? „Ich fand es unheimlich schwer, an Informationen zu kommen“, sagt sie und lässt nicht locker. „Ich bin eine Kämpferin“, sagt sie. Nach vielem Suchen findet sie zum Info-Zenter Demenz in der Stadt und beschließt, offen mit ihrer Erkrankung umzugehen. „Jeder, der es wissen will oder auch nicht, weiß, dass ich Alzheimer habe“, sagt sie.
Das ist immer noch die Ausnahme. Nach wie vor ist Demenz mit viel Scham und Schuld verbunden. Dinge, die früher gewohnt und, ohne groß nachzudenken, locker von der Hand gingen, tun es nicht mehr. „Ich muss mir heute viel mehr aufschreiben“, sagt sie. Es geht mittlerweile weit über das Führen des Terminkalenders hinaus. Trotzdem gehört sie zu dem einen Drittel der Alzheimerkranken, dem die Autonomie noch gelingt.

Autonom leben ist oft nicht mehr möglich
Der Rest, zwei Drittel aller Menschen mit einer Demenzerkrankung, wohnt in Pflegeeinrichtungen. Das sagt Christine Dahm-Mathonet (54). Sie leitet seit fünf Jahren das Info-Zenter Demenz in der Stadt, das sich genau dafür einsetzt. Demenzpatienten sollen, so lange es geht, selbstbestimmt leben können. Das „Zenter“ ist eine Anlaufstelle für Betroffene und deren Angehörige.
Neben Informationen zur Krankheit selbst vermittelt es Adressen für Hilfe, wenn es zuhause in der gewohnten Umgebung nicht mehr geht. 2024 suchten rund 700 Menschen den Rat des „Zenters“. Waren es vorher eher die erwachsenen Kinder der Betroffenen, finden inzwischen immer mehr Betroffene selbst den Weg dorthin– so wie Marianne Schwenk.
„Im ersten Halbjahr 2025 waren es doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum 2024“, sagt Dahm-Mathonet und wertet das als Erfolg. Sensibilisierung ist ein weiterer Schwerpunkt der Anlaufstelle und scheint zu fruchten. Marianne Schwenk richtet sich im Leben mit der Krankheit ein. „Schummi“ ist seit der Diagnose neues Familienmitglied.

Mit dem zweijährigen Mischlingshund geht sie täglich entlang der Mosel spazieren. Außerdem lernt sie Französisch. Das tägliche „Pauken“ gehört zu ihrem Alltag. Einmal in der Woche trainiert sie ihre sprachlichen Fähigkeiten mit einer befreundeten Luxemburgerin per Videokonferenz. Damit macht sie alles, was das Info-Zenter rät, um das Fortschreiten der Krankheit möglichst lange auszubremsen.
„Bewegung, Sport, sozialer Austausch und das Gehirn stimulieren“, zählt Info-Zenter-Leiterin Dahm-Mathonet die Dinge auf, die Betroffene tun können. Heilbar ist Alzheimer nicht, aber: „Das Gehirn ist ein Muskel, den man trainieren kann“, sagt Dahm-Mathonet. Der Verlauf der Krankheit ist bei jedem unterschiedlich. Und noch etwas ändert sich. Das Leben der Schwenks ist jetzt ein Leben, wo das Heute mehr zählt, als das Morgen.
Die Rollen haben sich geändert
Die Rollen haben sich geändert und es ist jetzt der Sohn, der für die Mutter da ist. Benjamin arbeitet so oft es geht im Homeoffice und weiß genau, dass sich ihr Zusammenleben jederzeit ändern kann. „Diese Krankheit wird gewinnen“, sagt er. „Und ich weiß, ich werde das irgendwann alleine nicht mehr schaffen.“ Das ist auch die Botschaft, die das Info-Zenter Demenz den Angehörigen mit auf den Weg gibt.
„Irgendwann wird trotz allen guten Willens fremde Hilfe nötig“, sagt Zenter-Leiterin Dahm-Mathonet. Marianne ihrerseits will sich davon nicht beeinflussen lassen. Wenn sie ihr aktuelles Leben in ein Bild packen müsste, würde es so aussehen: „Benjamin ist mein Geländer, aber nicht der Aufzug“, sagt sie – auch wenn dahinter ein großes „noch“ steht.
Demenz
Demenz ist der Oberbegriff für die Krankheit. Alzheimer ist die häufigste Form. Nach Info-Zenter-Angaben leiden rund 60 Prozent aller Demenzkranken an Alzheimer, das bei Frauen häufiger ist als bei Männern. Die zweithäufigste Form ist die vaskuläre Demenz, die eher Männer betrifft. Dann wird nach Schlaganfällen oder Herzinfarkten das Gehirn nicht mehr richtig durchblutet.

Die Kampagne „VergiessMechNet“
Was die rote Schleife für Aidskranke oder die Farbe Rosa für Brustkrebspatientinnen ist, ist die Pflanze Vergissmeinnicht für Demenzkranke. Die Sticker, die das Info-Zenter Demenz in Form der bekannten Blume verteilt, sollen Brücken bauen und sind Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen. „Der Sticker soll nicht die Krankheit, sondern den Menschen in den Vordergrund stellen“, sagt Dahm-Mathonet über die Kampagne.
De Maart

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