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Die Behörden lockerten die Anti-Coronavirus-Bestimmungen in einzelnen Gebieten, bekräftigten aber Chinas strenge „Null-Covid“-Strategie Foto: AP/dpa/Andy Wong

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Die Proteste gegen die Quarantäne, die im vergangenen Monat in ganz China ausgebrochen sind, zeigen die Kluft zwischen der chinesischen Bevölkerung und der Führung der Kommunistischen Partei in Bezug auf die Notwendigkeit der strikten Null-Covid-Politik. Angesichts der offensichtlichen Diskrepanz lohnt es sich zu untersuchen, wie und warum die Behörden und die Öffentlichkeit in ihrer Einschätzung der Kosten und Vorteile dieser Politik so weit auseinander liegen.

Ein wichtiger Unterschied scheint der Wert zu sein, den die beiden Seiten der Freiheit beimessen. Während die Öffentlichkeit die Freiheit über strenge Pandemieeinschränkungen stellen mag, behauptet die Regierung, dass Opfer notwendig sind, um Leben zu retten.

Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Chinas Eindämmungsstrategie viele Menschen gerettet hat. Wie ich kürzlich dargelegt habe, bedeutet Chinas riesige Bevölkerung, dass selbst bei gleicher Sterblichkeitsrate, gleichen Impfstoffen, gleichen Impfraten, gleicher öffentlicher Einstellung und gleicher Gesundheitspolitik wie in den Vereinigten Staaten in diesem Jahr wahrscheinlich mehr als eine Million Chinesen an Covid-19 gestorben wären, verglichen mit etwa 240.000 in den USA. Man könnte also argumentieren, dass die Null-Covid-Politik in China mindestens eine Million Menschenleben gerettet hat.

Der Wert eines Menschenlebens

Dann gibt es noch den finanziellen Wert der geretteten Leben. Eine Möglichkeit, diesen Wert zu schätzen, besteht darin, das Verhältnis des Pro-Kopf-Einkommens in China zu dem in den USA und den statistischen Wert des Lebens in den USA zu verwenden. Im Jahr 2021 betrug das Pro-Kopf-Einkommen in China 17 Prozent des US-amerikanischen. Wenn der Wert eines statistischen Lebens in China proportional zu diesem Verhältnis wäre, wäre ein chinesisches Leben etwa 1 Million Dollar wert, was bedeutet, dass der Gesamtwert der durch Chinas Null-Covid-Politik geretteten Leben etwa 1 Billion Dollar beträgt.

Diese Zahl könnte sogar noch höher sein. In Anbetracht der niedrigeren Impfraten in China, der weniger wirksamen Impfstoffe und der schwächeren medizinischen Einrichtungen ist es möglich, dass durch die Null-Covid-Politik bis zu zwei Millionen Menschenleben gerettet wurden, was den Gesamtwert der geretteten Leben auf 2 Billionen Dollar bringt.

Andererseits könnte der Wert der geretteten Leben auch geringer sein. Angenommen, China hätte seine strengen Covid-19-Restriktionen aufgehoben, aber die chinesische Bevölkerung wäre genauso wachsam geblieben wie die Menschen in Singapur und Japan, dann hätte die Eindämmungsstrategie vielleicht nur 400.000 Menschenleben gerettet, was einem Gesamtwert von 400 Milliarden Dollar entspräche. Doch für die Zwecke dieser Diskussion wollen wir den Wert der geretteten Menschenleben mit 1 Billion Dollar ansetzen.

Verlorene Wirtschaftsleistung

Um die Kosten des Null-Covid-Regimes zu berechnen, müssten wir den geschätzten Verlust an Wirtschaftsleistung zum Wert der durch die strengen Pandemiebeschränkungen verlorenen Freiheiten addieren. Die Eindämmungsstrategie hat die Wachstumsrate der chinesischen Wirtschaft in diesem Jahr wahrscheinlich um 2,2 Prozentpunkte verringert, was Kosten in Höhe von 384 Mrd. USD in Form von verlorenem BIP bedeutet. Wenn wir davon ausgehen, dass die Chinesen die verlorenen Freiheiten beispielsweise mit 1.000 Dollar pro Person oder einem Monatswert des Pro-Kopf-BIP bewerten, überwiegen die Gesamtkosten von 1,4 Billionen Dollar die Vorteile der Null-Covid-Politik. Würden die Behörden den bürgerlichen Freiheiten hingegen einen viel geringeren Wert beimessen (weniger als 460 Dollar pro Person), kämen sie zu dem gegenteiligen Schluss.

Wann würden die chinesischen Entscheidungsträger ihre Covid-Politik anpassen? Wenn sie ihre Bewertung der Freiheit nach oben korrigieren, auf mindestens 460 Dollar pro Person, könnten sie zu dem Schluss kommen, dass die Kosten für die Beibehaltung der Politik die Vorteile überwiegen würden. Tatsächlich haben die Behörden damit begonnen, in mehreren Städten einige der Virusbeschränkungen aufzuheben.

Während die anhaltende Ausbreitung des Virus den Ausstieg aus der Null-Covid-Politik erschwert, kann China in den nächsten Monaten seine Impfanstrengungen, insbesondere bei älteren Menschen, verstärken und die medizinischen Einrichtungen auf einen möglichen Anstieg der Fälle vorbereiten, u.a. durch den Ausbau der Kapazitäten der Intensivstationen in den Krankenhäusern. Eine Verringerung der Abhängigkeit von der Null-Covid-Politik würde auch die Wiederherstellung eines normalen Lebens für die chinesischen Bürger erleichtern.

Wenn also die Behörden den Wert der Freiheit nach oben korrigieren oder die erwartete Zahl der Menschen, die durch die Null-Covid-Politik gerettet werden müssen, nach unten korrigieren, könnten sie beschließen, die derzeitige Strategie aufzugeben. In diesem Fall könnte die ganze Welt, nicht nur das chinesische Volk, einen großen Seufzer der Erleichterung ausstoßen.


* Shang-Jin Wei, ehemaliger Chefvolkswirt der Asiatischen Entwicklungsbank, ist Professor für Finanzen und Wirtschaft an der Columbia Business School und der School of International and Public Affairs der Columbia University.

Übersetzung: Andreas Hubig.

Copyright: Project Syndicate, 2022, www.project-syndicate.org

Gronk
9. Dezember 2022 - 19.19

Da muss man sich doch schon die Frage stellen: Wieso um alles in der Welt lässt die chinesische "Regierung", die jahrzehntelang nur ein Ziel hatte und zwar Wirtschaftswachstum um jeden Preis ...wieso lässt diese nicht gewählte "Regierung" es zu, durch diese onimöse Null Covid Strategie die innere Wirtschaft wackeln zu lassen? Und seit Covid sehen wir alle, wie abhängig wir von diesem riesigen Land sind. Ob es nun um Christdeko und Billigtechnik geht oder sogar um lebenswichtige Medikamente geht.