Die Top 3 von Marc Trappendreher

1. „Ferrari“ von Michael Mann
Bei seiner Erstaufführung bei den Filmfestspielen von Venedig dieses Jahres wurde es bereits überaus klar, dass „Ferrari“ ein großer Autorenfilm ist, wie aus der fiktionalisierten Biografie dieser Ikone der italienischen Sportöffentlichkeit doch auch augenscheinlich ein Michael-Mann-Film geworden ist, der den Wesenszügen Enzo Ferraris mit sehr viel Präzision nachgeht, freilich doch in jeder seiner sorgsam gestalteten Einstellungen die vision du monde Michael Manns atmet. Sie ist es, die diesen überragenden Film durchdringt. Wie kein anderer hat Mann es verstanden, den Oberflächen des Genrekinos die realweltlich-innerlichen Tendenzen des modernistischen Gegenkinos einzuschreiben. Auch in „Ferrari“ sind es die existenzialphilosophischen Fragestellungen, die unter dem Gewand des Sportdramas liegen: die Einsamkeit, die privaten und die professionellen Neigungen des Menschen, das Schicksal des Individuums in einem größeren zeitlichen und wirtschaftlichen Gesamtbild. Über fünfzehn Jahre in der Entstehung, ist „Ferrari“ ein Film, der aus vergangenen Dekaden zu stammen scheint und doch ganz zeitlos wirkt. Nun, rund zehn Jahre nach seinem letzten Kinofilm, beweist Mann einmal mehr, dass er ein künstlerisch-obsessiver Regisseur ist, für den letztlich nur eines zählt – immer bessere Filme zu entwerfen, mit spannenden Geschichten, glaubhaften Charakteren, aufregenden Bildern. Und dabei zu sich selbst zu kommen. Spürbar zu werden in den Bildern und Tönen, ohne sichtbar zu sein.
„Ferrari“ startet Mitte Februar 2024 in den luxemburgischen Kinos
2. „The Banshees of Inisherin“ von Martin McDonagh
Gleich zu Beginn des Jahres brachte der Regisseur Martin McDonagh für seinen neuen Film sein bekanntes Darstellerpaar Colin Farrell und Brendan Gleeson wieder vor die Kamera. Nach „In Bruges“ (2008) gereicht McDonagh die äußere Handlung von „The Banshees of Inisherin“ auch lediglich zum Ausbreiten einer philosophischen Auseinandersetzung über die großen existenziellen menschlichen Sinnfragen, das Leben und das Sterben. So simpel sich dieser Film allem Anschein nach gibt, so einleuchtend die Figurenbeziehungen sind, so überschaubar die einzelnen Handlungsschauplätze sich auch präsentieren, umso reicher und unerschöpflicher sind die Reflexionen, die sich aus diesen ableiten lassen. Frei von allen klassischen Assoziationen, breitet der Film ein existenzialphilosophisches Netz aus Alltagsbanalitäten und -bedürfnissen, Freiheit und Selbstbestimmung, aus. Dabei wird er weder über gängige Muster des Genrekinos, noch über die sozialrealistischen Themenfelder des klassischen Arthouse-Kinos fassbar: Alles beginnt damit, dass einem Mann bewusst wird, dass seine Lebenssituation gestört ist, ein Aufbrechen der Routine stattfinden muss. Daraus formt McDonagh eine ganz tiefsinnige Auseinandersetzung mit den Fragen alltäglichen Zusammenlebens – ein tragikomischer Gesang der allumfassenden Bedeutsamkeit bei gleichzeitiger Nichtigkeit des menschlichen Daseins von seltener Schönheit.

3. „John Wick 4“ von Chad Stahelski
„John Wick“ ist der Verweis der Kunst auf sich selbst, Chad Stahelski inszeniert ein kafkaesk-schwereloses Ballett von äußerster Erhabenheit. Die Reihe um den hocheffizienten Superkiller folgt unmissverständlich einem ungemein selbstreferenziellen Steigerungsprinzip, eine Fallhöhe braucht Keanu Reeves als John Wick da nicht zu fürchten, denn sein Fundament ist der popkulturell basierte, doppelte Boden der Ironie. „John Wick“ will uns keinen Augenblick weismachen, dass es irgendeinen Bezugspunkt außerhalb des filmischen Universums gibt. Die Sinnlosigkeit alles Mordens ist sein Sinn – als Ausdruck einer kafkaesken Absurdität in einem autoritären System, das hier „Die Hohe Kammer“ heißt. Die kausallogischen Reize des Actionfilms sind hier in einer ganz post-postmodernen ironischen Krise angelangt, sie folgen kaum mehr einem narrativen Sinn, sind Selbstzweck für die Zurschaustellung alles Absurden in einer Welt des Absurden, in der sich jegliche Fragen nach Realitätsbezug in reiner Bewegung auflösen. Tatsächlich ist das Universum, das der Film abbildet, ein reiner Ansatz kinematographischer Konzeptkunst – eine radikalästhetische Provokation mit Klangteppichen von Antonio Vivaldi und tiefplastischen Räumen aus reinstem Licht. Alles ist da nur noch Bewegung im Bewegtbild. Das Actionkino in Reinform – „John Wick“ ist die Beendigung einer spezifischen Form des Actionkinos und möglicherweise der Beginn einer ganz neuen Avantgarde-Kunst.

Le Top 3 de Corinne Le Brun

1. „Aucun ours“ de Jafar Panahi
Sans doute le film le plus personnel, le plus politique de Jafar Panahi. Le réalisateur iranien use de toutes les ruses pour pouvoir filmer, clandestinement, la vie quotidienne d’un petit village reculé, proche de la frontière turque. Panahi filme deux histoires d’amour, confrontées au poids des traditions villageoises et à l’impossibilité de l’exil. Surtout, Panahi se met en scène: il commente chaque séquence d’une voix douce, sans la moindre colère ni quelconque lamentation victimaire. On entend un humour à froid, irrésistible et absurde d’un cinéaste empêché et de son inaltérable résistance. En toile de fond, comme l’indique le titre du film, sourd la peur de l’ours qui pourrait surgir à tout moment … Si pessimiste soit „Aucun ours“, Jafar Panahi parvient à poser un regard amoureux sur son pays qu’il ne quittera pas. Récompensé par le Prix spécial du jury au festival de Venise (en 2022) – que Jafar Panahi n’a pu recevoir parce que emprisonné à Téhéran –, ce chef-d’œuvre du cinéma continue de résonner de manière toujours aussi forte aujourd’hui.
2. „Les Herbes Sèches“ de Nuri Bilge Ceylan
Dès son superbe plan d’ouverture où un homme marche dans la neige, on reconnaît le cinéma ample et contemplatif de Nuri Bilge Ceylan. „Les Herbes Sèches“ est un long parcours à travers le personnage de Samet, jeune professeur d’arts plastiques dans un collège perdu au milieu de la campagne enneigée. Samet rêve d’un avenir, il espère une mutation à Istanbul. Il est confronté à des accusations de harcèlement de la part d’une élève, jeune et jolie. Qui séduit qui? Accompagner cet homme n’a rien d’agréable. Le suivre demande beaucoup d’attention, autant de patience. Le spectateur n’est pas déçu. „Les Herbes Sèches“ est magnifiquement parsemé de doutes, de silences et, surtout, d’abondants dialogues. La splendeur mutique des paysages enneigés percute le langage humain. De temps à autre, des clichés photographiques apparaissent, sublimes éclats d’espoir dans ce monde où l’incommunicabilité prévaut. „Tout ce qui est beau dans ce monde semble s’accrocher aux toiles qu’on tisse nous-même et jamais parvenir jusqu’à nous“, affirme Nuray, la femme intègre qui va révéler la vanité des personnages masculins. Pour ce rôle, Merve Dizdar a reçu le Prix d’interprétation féminine au Festival de Cannes 2023.

Foto: Nuri Bilge Ceylan via AFP
3. „Bernadette“ de Léa Domenach
Bernadette, c’est „Madame Chirac“, pour ceux et celles – et ils sont nombreux – qui l’oublieraient. Personne ne fait attention à la première dame de France. Elle est toujours à l’arrière-plan. Son mari a peu de mots sympathiques pour elle. On moque son tailleur, sa coiffure ringarde. On lui octroie un conseiller en communication jugé inoffensif. Ces deux-là vont faire des étincelles. Bernadette se rebiffe. L’Elysée tremble. Elle aime la politique. Elle sait parler le langage des Corréziens de France. Elle passe de l’ombre à la lumière. Rire avec la première dame de France? Il faut oser! Pari réussi. Pour son premier long métrage de fiction, Léa Domenach évite les pièges du biopic. Elle mise sur l’humour – et Bernadette en a à revendre! Elle choisit la comédie, à la fois tendre et satirique. Très documenté, „Bernadette“ déjoue les codes. Tout ce qui est pathétique, voire inacceptable aujourd’hui – incroyable, la misogynie de Jacques Chirac – devient drôle, hilarant. Les dialogues, ciselés, crépitent. Comme dans une bonne comédie anglaise. „Bernadette“ est une fable déjantée portée avec brio par Catherine Deneuve. Ce rôle lui va comme un gant. Léa Domenach ne s’est pas trompée: Bernadette et Catherine forment un duo épatant.

Foto: Kare Productions/AFP
Die Top 3 von Tom Dockal
1. „Yannick“ von Quentin Dupieux
Vielleicht war 2023 das Jahr des „Barbenheimer“-Sommers, aber zwischen diesen kulturindustriellen Kolossen wollte sich dann doch noch jemand Anderes ganz kurz zu Wort melden. Dieser Jemand war Yannick, der titelgebende Held in Tausendsassa Quentin Dupieux’ bis dato spontanstem Film.
Yannick meldet sich während der Aufführung einer Theaterklamotte zu Wort und verbalisiert aus dem Augenblick heraus seine Unzufriedenheit. Die Bühnendarsteller sind naturgetreu wenig amused über diesen Zuschauer, der es wagt, ihre Performance zu unterbrechen. Der einfache Nachtwächter, der sich frei nehmen musste und eine lange Anfahrt zum Theater hatte, wird in seinem Wunsch, tatsächlich unterhalten zu werden, einfach ignoriert, bis dieser entscheidet, den Theaterbetrieb selbst in die Hand zu nehmen.
Die Filme von Quentin Dupieux sind bekannt für ihre Kürze, denn wenn der Vorhang über Yannick herunterfällt und in den Abspann übergeht, sind gerade mal sechzig Minuten vergangen. Eine Stunde aber, die es allemal in sich hat, wie die Sprengung von Oppenheimers erster Atombombe. Irgendwo zwischen Peter Sellers in „Being There“ und den „gilets jaunes“, gibt Raphaël Quenard den Einfaltspinsel, der sich sein Unbehagen gegenüber der Mediokrität des ihm angebotenen Spektakels von der Seele redet. Seine Argumente sind weiß Gott manchmal grenzwertig, aber die Reaktion aller – ob jetzt auf, vor der Bühne oder der Kinoleinwand – zeugt von einer kollektiven Unzufriedenheit, die nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Die letzten drei Minuten des Films werden noch sehr lange nachhallen. Wir sind alle Yannick.
2. „Of an Age und Housekeeping for Beginners“ von Goran Stolevski
Die persönlich einschneidendste Entdeckung war die des Œuvres (und das Kennenlernen) des mazedonisch-australischen Filmemachers Goran Stolevski. Seine beiden letzten Spielfilme könnten nicht verschiedener sein und dennoch nehmen sie sich liebevoll an der Hand. Stolevskis queere Geschichten scheinen wie aus dem Leben gegriffen und mit der Kamera eingefangen. „Of an Age“ ist eine auf dem Papier einfache „boy meets boy“-Geschichte, die sich vor allem mit einem perfekten Sinn für Casting und einer Inszenierung im Sinne des Verliebtseins auszeichnet. Stolevski erlaubt seinen Figuren und seinem Publikum nur wenige Nicht-Nahaufnahmen, die ein regelrechtes Aufatmen ermöglichen. Der Verliebtsein-Strudel ist so allumfassend, dass jegliches Gefühl für Zeit und Raum verschwimmt. Die Queerness in seinem Folgefilm – der in Venedig übrigens den Queer Lion einheimste – stammt von der mehr als unorthodox zusammengewürfelten Familienkonstellation. Dieser ungewöhnliche Ensemblefilm erzählt mithilfe einer sehr erfinderisch-verspielten Montage vom chaotischen und alles andere als konfliktfreien LGBTQ-freundlichen Haushalt, der für viele Beteiligten das letzte Refugium ist. Das eigentlich Beeindruckende an den Arbeiten Stolevskis ist die unverblümte Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der er zwischen den dramaturgischen und formalen Registern hin und her springt – und sich dabei mehr oder weniger bewusst verbietet, sich zu wiederholen.
3. „La chimera“ von Alice Rohrwacher
Eine dritte Auswahl für diesen Rückblick zu treffen, war schwieriger als angenommen. Vor allem, weil der diesjährige Pool an beeindruckenden Filmen von Regisseurinnen so groß war. Während sich der Australo-Mazedonier immer wieder neu zu erfinden versucht, verfestigt die Italienerin Alice Rohrwacher ihr Kino immer tiefer im Boden, in dem es sich abspielt. Nicht nur im übertragenen Sinne. „La chimera“ ist Rohrwachers neuester Streich, der unerklärlicherweise mit leeren Händen aus Cannes zurückkam und der von einer feuchtfröhlichen Truppe von Grabräubern handelt, die sich ihren freizügigen Lebensstil damit verdienen, indem sie immer wieder etruskische Gräber entdecken und diese leerräumen. Inmitten dieser von Sonne und Erde gebräunten Bande liebevoller Freaks findet man auch den englischen Expat Arthur wieder, der maßgeblich wichtig für die „tombaroli“ ist. Aber Arthur interessiert sich nicht für die verstaubten Vasen und Skulpturen, die er dank einer mysteriösen Technik findet. Er sucht nach so etwas wie einer Tür zur Unterwelt, einer Tür zu seiner verstorbenen Lebensgefährtin, der vielleicht titelgebende Chimäre. David Ehrlich hat es bei seiner Indiana-Jones-Besprechung zu verstehen gegeben: Wenn man nur einen Film über einen traurigen und mürrischen Archäologen schauen soll, dann „La chimera“ von Alice Rohrwacher. Das Rohrwachersche „world building“ ist seit jeher das kohärenteste, magischste und einladendste. Mit Arthur und Co. würde man sich problemlos in den tiefsten und dunkelsten Gräbern verirren und nicht mehr herausfinden wollen.

De Maart
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