Der nächste kommt. Am Dienstagnachmittag werden sich die Türen zu den glanzvollen Kreml-Sälen für den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz öffnen. Kaum ist der französische Präsident Emmanuel Macron aus Moskau abgereist – ohne Substanzielles erreicht zu haben in der Lösung der Ukraine-Frage –, will nun Scholz dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Geschlossenheit der Europäischen Union demonstrieren und ihm klarmachen, welche erheblichen wirtschaftlichen Sanktionen das Land treffen würden, sollte es in der Tat die Ukraine überfallen.
Auf Scholz ruht die Last der Verantwortung bei dieser bedeutungsschweren Reise. Nach Überzeugung westlicher Geheimdienste könnte Russland bereits am Mittwoch seine Invasion im Nachbarland starten. Scholz wäre damit der wohl letzte westliche Politiker im Kreml, der einen erneuten Versuch unternehmen dürfte, Putin von diesem Angriff abzubringen. Davon, dass es zu einem solchen Angriff kommen wird, sind viele Beobachter in den USA und in Europa überzeugt. Russland bezeichnet diese Überzeugung als „Massenpsychose“. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, sprach gar davon, dass der Westen „diesen Krieg offenbar braucht“.
Putins Zeigefinger
Scholz’ „Mission“ sehen Russlands kremlloyale Kommentatoren, wie bereits bei Macron, als völlig unnötig an – schließlich bedrohe Russland ja niemanden, so die russische Sicht. Doch sie gestehen dem unbekannten Deutschen zu, den Dialog zu suchen. Es gäbe genügend Themen in den beiderseitigen Beziehungen: Nord Stream 2, die Zwangsschließung des Moskauer Büros der Deutschen Welle samt unklarer Drohungen der russischen Behörden an die deutschen Journalisten in Moskau, medizinische Untersuchungen für Ausländer mit Arbeitsvisum, die Russland zur Pflicht macht, selbst Kinder ab sechs Jahren müssten sich Tests auf Syphilis, Röntgenaufnahmen und der Erfassung von Fingerabdrücken unterziehen. Das zeigt auch ausländischen Investoren, dass sie im Land nicht willkommen sind.
USA verlegen Botschaft
Die USA verlegen angesichts der extrem angespannten Lage im Ukraine-Konflikt ihre Botschaftsgeschäfte von der Hauptstadt Kiew in die Stadt Lwiw nahe der Grenze zu Polen. Es handle sich um eine vorübergehende Vorsichtsmaßnahme, teilte das US-Außenministerium am Montag mit. Der Schritt dürfte auch damit zusammenhängen, dass die USA aufgrund ihrer diplomatischen Vertretung weiterhin auch über eine kleine militärische Präsenz in der Ukraine verfügen und unbedingt vermieden werden soll, dass im Fall eines Krieges in der Ukraine russische und amerikanische Soldaten aufeinander schießen.
Derweil ist ein russischer Angriff auf die Ukraine nach Einschätzung des US-Verteidigungsministeriums jederzeit möglich. „Ich denke, dass wir alle darauf vorbereitet sein müssen, dass es mit wenig oder gar keiner Vorwarnung geschehen könnte“, sagte Ministeriumssprecher John Kirby am Montag im US-Sender CNN.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres hingegen glaubt einem Sprecher zufolge weiter daran, dass es keinen Konflikt geben wird. Dies basiere auf „seiner eigenen Analyse, seinen eigenen Hoffnungen“. Die Vereinten Nationen hätten keine Pläne, weitere Mitarbeiter aus der Ukraine abzuziehen. Guterres habe mit den Außenministern von Russland und der Ukraine gesprochen und betont, dass es keine Alternative zu Diplomatie gebe. (AFP, dpa)
Der Fokus von Scholz’ Besuch aber dürfte auf der Ukraine liegen, die längst zum Spielball zwischen Ost und West geworden ist. Im Gegensatz zu seiner Vorgängerin Angela Merkel, die vor allem wegen ihres Pragmatismus in Russland geschätzt wird, bleibt Scholz für viele Russen eine Art Black Box. Die meisten im Land können mit seinem Namen nichts anfangen. In den Nachrichtensendungen wird Scholz’ Besuch bei Putin lediglich beiläufig erwähnt – in einer Reihe anderer Besucher aus dem Ausland. Das diplomatische Stelldichein wird im Staatsfernsehen geradezu genussvoll kommentiert. Der Herrscher im Kreml gefällt sich dieser Tage in der Rolle des Weltenlenkers, der seine Sicht der Dinge zu erklären weiß. „Hören Sie mir genau zu“, sagt er gern und hebt den Zeigefinger dabei.
Die Welt redet über Putin, rätselt über das, was er denkt, was er will, was er tut. Sagen kann das niemand, die Aufmerksamkeit aber, die Russland und Putin zuteilwerden, ist von Moskau gewollt. Bereits im November, als Russland seine Truppen an die russisch-ukrainische Grenze verschieben ließ, sagte Putin bei seinem Auftritt im russischen Außenministerium: „Unsere jüngsten Warnungen machen sich bemerkbar und erzeugen einen gewissen Effekt: Es ist tatsächlich eine Anspannung entstanden. Dieser Zustand muss so lange wie möglich erhalten bleiben.“
Es ist ein Nervenspiel, angetrieben von einem ehemaligen Geheimdienstler an der Spitze eines Landes, das auf Angst setzt, um sich Respekt zu verschaffen
Diese „Anspannung“ ist einer echten Kriegsangst gewichen. Zumindest auf der nicht-russischen Seite. Das spielt dem Kremlherrn in die Hände. Mit seinen Forderungen nach Sicherheitsgarantien, die Moskau von den USA und der NATO erwartet, steht er besser da denn je. Moskau weiß, dass diese Garantien nicht erfüllt werden können, und doch kann es die Lage für sich immer weiter ausloten, weil es sich seiner militärischen Kraft und der Angst des Westens vor dieser bewusst ist. Es ist ein Nervenspiel, angetrieben von einem ehemaligen Geheimdienstler an der Spitze eines Landes, das auf Angst setzt, um sich Respekt zu verschaffen.
Die deutsch-russische Vertrauensbasis, die die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau lange Jahre getragen haben, ist längst zu einer deutsch-russischen Enttäuschung geworden. So hält auch Scholz die Erwartungen an seinen Antrittsbesuch im Kreml niedrig. Reden aber sei immer gut, hieß es aus dem Kanzleramt. Auch Moskau will reden – und nur das hören, was seinen eigenen Interessen entspricht.
Versöhnliche Töne aus Moskau
Entgegen der US-Warnungen vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff Russlands auf die Ukraine kommen aus Moskau versöhnliche Töne. Präsident Wladimir Putin ließ am Montag signalisieren, dass er zu weiteren Gesprächen bereit sei, wie dies Außenminister Sergej Lawrow im Streit über russische Sicherheitsgarantien vorgeschlagen hat.
Lawrow sagte in einer am Montag im Fernsehen übertragenen Unterredung mit Präsident Putin, ein weiterer Dialog mit dem Westen über die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien sei möglich. „Wir haben mehr als einmal davor gewarnt, dass wir nicht endlos verhandeln über Fragen, die heute schon eine Lösung erfordern“, sagte Lawrow, fügte aber hinzu: „Es scheint mir, dass unsere Möglichkeiten bei weitem noch nicht am Ende sind.“ Die USA hätten konkrete Vorschläge unterbreitet, um die militärischen Risiken für Russland zu verringern. Die Antworten von EU und NATO auf die Forderungen Russlands seien indes nicht zufriedenstellend, da die Regierung in Moskau eine Position der einzelnen Staaten fordere, sagte Lawrow. (AFP, dpa)
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