Das Wort „glücklich“ ist wahrscheinlich übertrieben. Aber „zufrieden“ trifft es vielleicht auch. Lars Klingbeil jedenfalls wirkt sehr bei sich im Gespräch mit den deutschen Soldaten. Der Finanzminister und SPD-Chef, selbst Sohn eines Berufssoldaten, ist in der Sommerpause zur Truppe nach Litauen gereist. Formal ist der Verteidigungsminister als oberster Dienstherr zuständig, aber Klingbeil versteht seine Vizekanzlerrolle auch als „Kümmerer“. Es fällt Klingbeil leicht, dabei Kontakte zu knüpfen: Die Soldaten wenden sich offen an ihn, auch mit kritischen Anmerkungen.
Anderer Ort, eine Woche später: Der Lafayette-Park vor dem Weißen Haus, Klingbeil ist mit Limousine und BKA-Beamten in Washington unterwegs. Er hält vor Kameras mit Kritik an der EU-Zolleinigung nicht hinter dem Berg, zu vieles ist noch unklar. Und erntet prompt Kritik aus Brüssel. Immerhin ist es der deutsche Vizekanzler, der sich so äußert. Und obendrein der EU-Finanzminister, der gerade mit Schuldenpaketen in Milliardenhöhe jongliert.
Der 47 Jahre alte SPD-Chef ist nach 100 Tagen im Ministeramt angekommen. Noch in der Ampel-Regierung unter SPD-Kanzler Olaf Scholz musste Klingbeil Regierungspolitik von der Seitenlinie kommentieren. Nun aber ist die schwarz-rote Koalition unter CDU-Kanzler Friedrich Merz vor allem auch seine Erfindung, er ist der zweitmächtigste Mann der deutschen Politik.
Von CDU und CSU heißt es übereinstimmend: Ohne Klingbeil wäre diese Regierung nicht zu Stande gekommen. Nicht fachlich, nicht menschlich. Sein Verhandeln und seine Strategie waren entscheidend für die Sondierungen und Koalitionsverhandlungen. Auch mit Merz persönlich passt es. „Das Verhältnis zwischen dem Bundeskanzler und mir ist vertrauensvoll“, betont der SPD-Chef immer wieder.
Doch Klingbeil hatte die Rechnung ohne seine Partei gemacht. Er, der sich eigentlich großer Beliebtheit in der SPD erfreute, hatte die Flexibilität der Genossen überschätzt. Die einen nahmen ihm übel, den glücklosen Kanzler Scholz als Kanzlerkandidaten nicht verhindert zu haben. Die anderen, die Ampel-Prominenten an der Parteispitze zur Seite gedrängt und sich selbst Macht genommen zu haben. Das schlechte Ergebnis beim Parteitag war die Quittung.
Zwischen nett und eisigem Machtwillen
Aus dem Mann, der sich fragen lassen musste, ob er zu nett für die Politik ist, wurde der Mann, dem nun ein eisiger Machtwille und harte Durchsetzungskraft angelastet werden. Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte. Doch ob er das Tempo und die Belastung der letzten Monate durchhalten kann? In manchen Momenten wirkt es so, als ließe er alles problemlos an sich abprallen. In manchen, als setze es ihm enorm zu.
Ein solcher Moment war etwa der letzte Tag vor der parlamentarischen Sommerpause, der Tag der abgesetzten Richterwahl. Die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf hatte keine Unterstützung. Man sah es Klingbeils Miene an. Die Situation zeigte deutliche Bruchstellen in der noch so jungen Koalition auf. Ein wenig wie Gift, das langsam einträufelt. „Wenn wir Absprachen treffen, dann müssen die gelten. Darauf müssen wir uns als SPD verlassen können. Das war in der Frage von Frauke Brosius-Gersdorfs Berufung an das Bundesverfassungsgericht nicht der Fall. Beim Start in die Sommerpause wurden die Erfolge der Koalition dadurch überlagert“, sagt er im Gespräch mit dem Tageblatt rückblickend.
Kann man ein guter SPD-Chef und ein reformfreudiger Finanzminister sein? Der vorletzte Finanzminister, FDP-Chef Christian Lindner, hat seine Partei aus der Regierung geführt. Der letzte Finanzminister einer großen Koalition wurde danach selbst Kanzler. In Klingbeils Büro im Finanzministerium ist noch nichts wirklich eingerichtet, dafür hat er schon zwei Haushalte durchs Kabinett gebracht. Am Tempo, Ehrgeiz und einem professionellen Stab mangelt es ihm jedenfalls nicht.
Überfällige Reformen mit anstoßen
Und dennoch wird es für den Finanzminister in den nächsten Jahren außerordentlich ungemütlich. Die beiden Haushalte, die jetzt im parlamentarischen Verfahren liegen, waren schon nicht einfach – für 2027 fehlen 34 Milliarden Euro. Klingbeil wirkt dabei schicksalsergeben, er kokettiert richtiggehend damit, dass „Finanzminister nicht die beliebtesten Minister im Kabinett“ seien. Denn die Ansagen an die schwarz-rote Ministerriege sind klar, jeder muss seinen Beitrag leisten. Ob er damit auch die Bereitschaft von Kanzler Merz testen will, Steuern zu erhöhen? Oder sich als SPD-Chef tatsächlich entschließen sollte, überfällige Reformen bei Rente, Gesundheit, Pflege, Bürgergeld mit anzustoßen und den Gegenwind aus der Partei zu ertragen? Reformieren, ohne an den Grundfesten des Sozialstaats zu rütteln. Krisen können Politiker auch formen.
Wie blickt der Vizekanzler selbst auf die letzten 100 Tage? „Wir hatten keine 100-Tage-Schonfrist, es waren wahrscheinlich noch nicht mal drei Tage. Unterm Strich haben wir in dieser ersten Zeit vieles gemeinsam geschafft, was unser Land positiv verändern wird. Zwei Haushalte, den Wachstumsbooster für die Wirtschaft, das Rentenpaket, bereits in den Sondierungen die Einigung auf das Sondervermögen Infrastruktur und die Einigung bei den Verteidigungsausgaben“, sagt er.
Dem 47 Jahre alten Vater eines Sohnes aus Niedersachsen war nicht vorgezeichnet, einmal Vizekanzler des Landes zu werden. Er war der erste seiner Familie, der überhaupt studierte. Der Fortgang der Koalition ist mit dem politischen Schicksal von Klingbeil verbunden – und andersherum. „Ich will, dass diese Koalition gelingt. Dafür tragen wir alle gemeinsam Verantwortung. Das erwarten die Menschen von uns, das merkt man bei Gesprächen mit der Wirtschaft, Bürgern, Vereinen, überall. Die Menschen wollen, dass wir Lösungen finden, daran müssen wir arbeiten. Von Ampel-Zeiten aber sind wir sehr weit entfernt“, schätzt er die Lage der Koalition aktuell ein. Der Herbst wird zeigen, ob er recht hat.
De Maart
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