Dienstag23. Dezember 2025

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LiteraturLandolf Scherzer rückt „die kleinen Leute“ in den Mittelpunkt seines Buches „Die Kämpfs“

Literatur / Landolf Scherzer rückt „die kleinen Leute“ in den Mittelpunkt seines Buches „Die Kämpfs“
Schreibt über die Familie Kämpfs aus Thüringen: Landolf Scherzer im Jahr 2015  Foto: Vincent Eisfeld/vincent-eisfeld.de

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Ein Buch über das, was in den Geschichtsbüchern keinen Platz findet: Landolf Scherzer gibt mit „Die Kämpfs – Eine Thüringer Familiengeschichte oder Die große Kraft der kleinen Leute“ ein lesenswertes Beispiel. Ein Blick ins Werk.

Wer macht Geschichte? Wer baute das siebentorige Theben? Wohin gingen am Abend, als die Chinesische Mauer fertig wurde, die Maurer? Darüber sinnierte einst Bertolt Brecht in den „Fragen eines lesenden Arbeiters“. In den Geschichtsbüchern stehen meist die Namen führender politischer Persönlichkeiten, sogenannte „große Namen“. Doch bewegen nicht die vielen Menschen der Völker eigentlich das Weltgeschehen. Sie schaffen die Werte, bauen die Häuser und Straßen. Und ihre Männer – und neuerdings auch die Frauen – ziehen an die Fronten, um den Willen Herrschender militärisch durchzusetzen. Ist es da nicht viel interessanter, den Geschichten der „kleinen Leute“ zu folgen, jenen, ohne die die Geschichte der Großen gar nicht möglich wäre?

Der Schriftsteller Landolf Scherzer hat sich diese Frage gestellt und versucht, an einem Beispiel darauf eine Antwort zu geben. „Die Kämpfs – Eine Thüringer Familiengeschichte oder Die große Kraft der kleinen Leute“ zeigt die Geschichte einer deutschen Familie über mehr als ein Jahrhundert – vom Kaiserreich über Weimarer Republik und Nazidiktatur bis in die beiden deutschen Republiken nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Zufallsgeschichte, ein Zufallstreffen: Beim Wandern durch seine Thüringer Wälder trifft Scherzer an einem regnerischen Oktobertag des Jahres 1994 in einer Baude auf Marianne Stracke. Geborene Kämpf, wie sie sich vorstellt. Die ehemalige Bäuerin einer „LPG“ – einer „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft“, wie es im DDR-Deutsch hieß – verdient sich zur Rente ein Zubrot: Ein westdeutscher Verlag editiert Wanderführer und lässt dafür Interessierte gegen ein kleines Honorar Wanderwege ablaufen und beschreiben. Ihr Hauptinteresse gilt jedoch der Familiengeschichte, die sie in Tagebüchern, Briefen, Notizen und Bildern sammelt.

Komplexe Familiengeschichten

Als Marianne im Februar 2004 verstirbt, bringt ihr Sohn Hans-Rüdiger Kisten und Kartons mit Briefen und Dokumenten in Scherzers Haus. Doch erst zwanzig Jahre später wird sich der Autor der Geschichte annehmen: Neugier auf das, was die Welt zu Anfang dieses Jahrtausends bewegt, hat ihn nach China, Griechenland, Kuba, auf den Balkan und die Krim getrieben. Nach zwei Jahrzehnten ist diese Neugier gestillt und auch große Enttäuschung eingezogen. Warum er sich jetzt mit der Geschichte der „kleinen Leute“ beschäftige? „Weil ich hinter den Lügen der von mächtigen Finanzbossen der Welt gelenkten Politiker die einfache Wahrheit nicht mehr finde? Weil ich für das Heute und Morgen der Welt meine Utopien und Hoffnungen verloren habe? Und hoffe, sie in den Geschichten der kleinen Leute wiederzufinden?“
Vielleicht gibt ein Satz der Marianne Stracke die Antwort auf diese Fragen: „Die Kämpfs und ihre Lebensgeschichten sind alle unterschiedlich und haben doch etwas Gemeinsames – Niemand von ihnen konnte sich aus den Zwängen seiner Zeit befreien. Genauso wenig wie du und ich, gestern nicht und heute nicht und an keinem Ort der Welt.“

Scherzer begibt sich auf Spurensuche. Die Dokumente, Briefe und Tagebücher reichen ihm nicht aus. Wie stets, wenn er die Recherchen zu seinen Reportagen betreibt, geht er zu den Menschen, in ihre Häuser, Wohnungen, an ihre Arbeitsplätze. Dort, im normalen Alltag, befragt er sie nach ihrem Leben, ungeschminkt und ungeschönt. Heraus kommt ein Bericht vom Leben in deutschen Landen. Von Leben, die sich aber genauso oder ähnlich jenseits deutscher Grenzen bei den „kleinen Leuten“ so hätten abspielen können.

„Die Kämpfs – Eine Thüringer Familiengeschichte oder Die große Kraft der kleinen Leute“, erschienen bei Edition Ornament im Quartus Verlag. 271 Seiten. ISBN 978-3-947646-66-1
„Die Kämpfs – Eine Thüringer Familiengeschichte oder Die große Kraft der kleinen Leute“, erschienen bei Edition Ornament im Quartus Verlag. 271 Seiten. ISBN 978-3-947646-66-1 Quelle: Ornament Verlag

Scherzers Reportage ist ein langsames Buch, das Zeitläufte aufgreift, in dem es Zeitpunkte beschreibt. Entwicklungen zeigt, von Idealen und zerstörten Träumen, vom Vorangehen und Sich-Zurückziehen. Von Sehnsucht nach der Ferne und Weh nach der Heimat. Von der „roten“ Anna und ihrem Mann Rudolf Moritz, dem Büchsenmacher, der sein Leben lang der Sozialdemokratie anhing. Von der streng katholischen „schwarzen“ Anna und ihrem Mann, dem Schneidermeister Karl Kämpf. Von einer „Königskinderliebe“ der beiden Paare: Irma und Artur, die fast nicht zusammenkommen sollten – Romeo und Julia auf dem Dorfe. Artur, Mariannes Vater, hängt zunächst den sozialistischen Idealen des Schwiegervaters an. Doch mit Ende der Weltwirtschaftskrise lässt er sich von den neuen „Führern“ verführen, nimmt eine Stelle in Ostpreußen an, zieht schließlich in den Krieg gegen die Sowjetunion und flüchtet Jahre später vor den Russen in den Westen.

Wer die „kleinen Leute“ sind

Marianne, 1952 18 Jahre alt, bleibt in der jungen DDR, sieht dort eine Zukunft für sich. Eine typisch deutsch-deutsche Geschichte „kleiner Leute“ entwickelt sich, wie vieltausendmal geschehen. Ein Ost-West-Konflikt auf familiärer Ebene, dem großen nicht unähnlich. Verbunden mit Hoffnungen und Enttäuschungen, die sich auch nach der Vereinigung 1990 nicht auflösen und im ehemaligen Grenzland fortbestehen. Scherzer geht auf aktuelle Entwicklungen nicht ein, doch die jüngsten Wahlergebnisse, die die extreme Rechte vor allem auf ostdeutschem Gebiet auf dem Vormarsch sieht, haben ihre Wurzeln auch in Familiengeschichten wie dieser.

In Geschichten, die aufzeigen, wie die „kleinen Leute“ die hochfahrenden Ideen und Pläne der Mächtigen umsetzen und zumeist auch ausbaden müssen. Scherzer, stets in seinen Büchern diesen Geschichten auf der Spur, lässt sich in 20 Intermezzos bestätigen, was Autoren, Pfarrer, Wissenschaftler, Ingenieure oder auch einfach Arbeitende unter dem Begriff „kleine Leute“ verstehen. Menschen aus dem Volk, Menschen wie du und ich, sie alle, die ihr täglich Leben in diesen Zeitläuften durchkämpfen müssen. Das ist, was das Buch auch außerhalb der thüringischen Landesgrenzen lesenswert macht.