Mittwoch29. Oktober 2025

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Serial und Co.„Kein Podcast, sondern das wahre Leben“: Wie Audioproduktionen Gerichtsurteile beeinflussen

Serial und Co. / „Kein Podcast, sondern das wahre Leben“: Wie Audioproduktionen Gerichtsurteile beeinflussen
Ein Richter in Baltimore hat am Montag die Freilassung von Adnan Syed angeordnet, nachdem er seine Verurteilung wegen des Mordes an der Highschool-Schülerin Hae Min Lee im Jahr 1999 aufgehoben hatte Foto: Jerry Jackson/The Baltimore Sun via AP/dpa

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Kaum ein US-Kriminalfall erfuhr in den vergangenen Jahren so viel Aufmerksamkeit wie der des wegen Mordes verurteilten Adnan Syed. Durch den Podcast „Serial“ nahmen weltweit hunderte Millionen Zuhörer Anteil am Schicksal des Mannes, der stets seine Unschuld beteuerte. Seine Freilassung am vergangenen Montag hat eine Debatte darüber entfacht, welchen Einfluss die populären „True Crime“-Serien auf die Strafjustiz haben.

Als Syed das Gerichtsgebäude in Baltimore verließ, nachdem er 22 Jahre lang wegen angeblichen Mordes an seiner Ex-Freundin im Gefängnis gesessen hatte, empfing ihn eine jubelnde Menge von Unterstützern. Vor Ort war auch die Journalistin Sarah Koenig, die 2014 mit ihrem Podcast „Serial“ den Fall weit über die USA hinaus bekannt gemacht hatte.

In dem Podcast beleuchtete Koenig das Verbrechen und die Ermittlungen in allen Details, ohne ein Urteil über Schuld oder Unschuld zu fällen. Ihre Recherchen ließen jedoch Kritik an den Ermittlungen aufkommen. Die Staffel zu Syed wurde 300 Millionen Mal heruntergeladen. „Das war ein Popkultur-Hit“, sagt Lindsey Sherrill, Kommunikationswissenschaftlerin an der University of North Alabama.

„Seit es Menschen gibt, interessieren sie sich für Verbrechen“, sagt sie. So hätten sie sich im Mittelalter öffentliche Hinrichtungen angeschaut. Mit „Serial“ habe sich aber die Art und Weise geändert, in der das Interesse an solchen Themen empfunden werde. Früher habe dies als „etwas schuldbehaftetes und voyeuristisches Vergnügen“ gegolten, seit „Serial“ handle es sich um eine akzeptierte Freizeitaktivität, konstatiert die Wissenschaftlerin. „Jetzt ist es also cool.“

Im Gefolge von „Serial“ wurden Podcasts immer populärer, die sich mit ungeklärten Morden, Justizversagen oder unter mysteriösen Umständen Verschwundenen beschäftigten. Sherrill zählte mehr als 5.000. Die meisten stammten von Amateuren und seien nicht viel informativer als ein Wikipedia-Artikel – anders als jene von Journalisten oder Juristen.

Ein partizipativer Effekt

Eine der besten „True Crime“-Produktionen ist Sherills Meinung nach die zweite Staffel des Podcasts „In the Dark“. Sie untersucht den Fall von Curtis Flowers, eines Schwarzen, der sechsmal wegen eines Vierfachmordes vor Gericht stand, den er nach eigener Beteuerung nicht beging. Die journalistischen Recherchen deckten Versäumnisse des leitenden Staatsanwalts auf und halfen Flowers’ Anwaltsteam, den Fall vor den Obersten Gerichtshof der USA zu bringen. Der Podcast trug damit dazu bei, dass Flowers nach mehr als 20 Jahren Haft frei kam.

Die Auswirkungen von „Serial“ auf die Causa Syed sind weniger direkt, da die Staatsanwaltschaft seinen Fall im Rahmen eines Antrags auf Strafminderung wieder aufrollte. Aber in den Vereinigten Staaten sind leitende Staatsanwälte gewählte Beamte, empfänglich für die Stimmung in der Öffentlichkeit.

Manchmal können selbst Amateur-Produktionen etwas bewegen. Der Podcast „Truth and Justice“, der die Hörer um Hinweise bittet, trug 2018 zur Freilassung von Ed Ates bei, der 20 Jahre lang wegen angeblichen Mordes an einer Nachbarin im Gefängnis saß.

Dawn Cecil, Kriminologie-Professorin der University of South Florida, sieht in diesem „partizipativen Aspekt“ einen der Hauptgründe für den Erfolg von „True Crime“-Podcasts. „Die Leute können zu Online-Detektiven werden, Ermittlungen finanzieren, in sozialen Netzwerken darüber diskutieren“, sagt sie. Doch nicht immer sei das der Wahrheitsfindung dienlich – etwa wenn Menschen fälschlicherweise verdächtigt würden.

Generell seien diese Podcasts zwar lehrreich und „machen auf potenzielle Ungerechtigkeiten aufmerksam“, sagt Cecil. „Aber sie neigen dazu, die Ansichten der Menschen über Kriminalität zu verzerren, und vermitteln falsche Botschaften über die häufigsten Verbrechen, ihre Täter oder Opfer.“

Die Wissenschaftlerin sorgt sich auch um die Leidtragenden jener Verbrechen, um die es in den „True Crime“-Serien geht. Die Familie von Hae Min Lee, der 1999 ermordeten Ex-Freundin Syeds, beschwerte sich immer wieder, dass sie wegen des Rummels um „Serial“ nicht mit der Vergangenheit abschließen könne. Am Montag ließ ihr Bruder Young Lee seinem Schmerz freien Lauf, als er vor Gericht eine Erklärung über den Onlinedienst Zoom abgab. Unter Tränen sagte er: „Für mich ist das kein Podcast. Es ist das wahre Leben.“