Es gibt viele Wege zum Jazz. Unendlich viele, schien mir. Die Welt des Jazz schien mir unergründlich. Ich wusste zuerst nicht, wo ich anfangen sollte. So nahm ich einerseits den Weg über das Kino, etwa mit Clint Eastwoods Film „Bird“ von 1988 über Charlie Parker. Meine erste Jazzplatte war jedoch von Miles Davis: der Soundtrack des Films „Ascenseur pour l’échafaud“ von Louis Malle. Ein echtes Einstiegserlebnis hatte ich jedoch am 24. April 1990, als ich bei einer Spoken-Word-Veranstaltung in München mit einem neben mir auf dem Boden sitzenden Mann ins Gespräch kam. Es war Henry Rollins.
Als Leadsänger der kalifornischen Punkband Black Flag war der in Washington D.C. aufgewachsene Rollins berühmt geworden. Mit seiner Rollins Band verband er verschiedene musikalische Einflüsse miteinander – unter anderem Jazz. Bekannt für seine Intensität und seine Bühnenpräsenz, war nicht automatisch auf seine Vorliebe für Jazz zu schließen und den Einfluss von Jazzmusikern wie John Coltrane und Miles Davis auf ihn. An dem Abend sollte jedoch auch der Gitarrist Caspar Brötzmann auftreten, der Sohn der deutschen Jazz-Legende Peter Brötzmann. So kamen wir auf den Jazz zu sprechen.
Rollins sagte, was er später öffentlich wiederholte: „Es gibt wenige Musiker, die so rein und direkt mit den Quellen der Musik verbunden sind. Sie konnten keine Fehler machen, weil alles, was sie taten, war ungezwungen. Wen meine ich damit? John Coltrane. Finde eine schlechte Coltrane-Schallplatte – sie existiert nicht. Meine erste Coltrane-Scheibe war ‚A Love Supreme‘. Ich hörte sie wieder und wieder an. Beim Anhören dieses Albums lernt man die Möglichkeiten der Musik verstehen. Sie machte mich vom Jazz-Fan, was ich schon vorher war, zu einem Jazz-Fanatiker. Jazz ist das größte Geschenk Amerikas an den Rest der Welt. Allgemein ist Musik die größte Erfindung des Menschen – und ganz vorne steht dabei John Coltrane.“
Über Rollins’ Liebe zu Miles Davis schrieb das britische Online-Magazin Far Out: „Die Musik des Jazztrompeters ließ stets Raum für Interpretation und Spontaneität.“ Das Magazin bezeichnet Davis sogar als einen der ersten Punks: „In einer Zeit der Rassentrennung und Diskriminierung in den USA war Davis ein furchtloser Individualist, der sich nicht unterkriegen ließ. Er drehte dem Publikum den Rücken zu.“ Der Jazz-Trompeter hat Rollins’ Bühnenpräsenz stark beeinflusst: „Das gibt dir so viel Selbstvertrauen, wenn du das hörst, weil du merkst: ‚Das ist es, was ich mit Musik machen will, das ist es, was ich mit jeder Kunst, die ich mache, machen will, nämlich trotzig sein.‘“ Rollins verkörperte diesen Trotz, für den Davis Pionierarbeit geleistet hatte.
Die Fusion der Klangwelten
Letzterer war ein ständiger Innovator gewesen und hatte auf Alben wie „Bitches Brew“ mit psychedelischer Musik zu experimentieren begonnen. An dem legendären Album, an drei Tagen im New Yorker Columbia-Studio im August 1969 von Teo Macero produziert und am 30. März 1970 veröffentlicht, nahmen 18 Musiker teil, darunter zahlreiche Gastsolisten: von Wayne Shorter (Sopransaxophon), Joe Zawinul und Chick Corea (E-Piano) über John McLaughlin (Gitarre) bis hin zu Airto Moreira (Percussion), um nur einige zu nennen. Dabei kamen elektrische Instrumente ebenso zum Einsatz wie indische und lateinamerikanische.
Die Doppel-Schallplatte wurde sowohl künstlerisch bei den Kritikern als auch kommerziell ein Riesenerfolg – die erste der Fusion aus Jazz und Rock – und Davis’ bis dahin erfolgreichstes Album. Von fast jedem bedeutenden Fachmagazin wird es zu den hundert besten Alben aller Zeiten gezählt. Damit überbot der damals 33-Jährige das im Jahr zuvor entstandene „In a Silent Way“. Schon seit Mitte der 60er hatten Musiker versucht, den Jazz mit der Dynamik des Rock und der Intensität des Funk zu verbinden. Doch für eine echte Fusion bedurfte es einer visionären Kraft wie der von Miles Davis.
Das avantgardistische Meisterwerk birgt Stücke wie das 20 Minuten lange „Pharaoh’s Dance“, das fast 27-minütige titelgebende „Bitches Brew“ und „Miles Runs the Voodoo Down“ (14 Minuten). Der Hörer fühlt sich in einen Dschungel versetzt und taucht in ein musikalisches Urwaldgewitter ein. Aus allen Richtungen ertönen bislang nie gehörte Klänge – von gurrenden Lauten bis perlenden Tonkaskaden. Zum Erfolg des Albums trug übrigens auch der Farbenrausch des Covers von dem deutschen Künstler Mati Klarwein bei.
Das große Gebet des Jazz
Definitiv gehört auch „A Love Supreme“ von John Coltrane zu den absoluten Meilensteinen des Jazz. Das Album erschien im Januar 1965 und markierte den absoluten Höhepunkt des Saxophonisten. „Trane“ hatte es als vierteilige Suite mit den „Aknowledgment“, „Resolution“, „Pursuance“ und „Psalm“ betitelten Sätzen komponiert. 1959 hatte er noch als Teil des Miles Davis Quintetts bei dessen „Kind of Blue“ mitgewirkt. Als Solist, Bandleader und Komponist suchte er dann nach neuen Wegen. Als er Davis’ Quintett 1960 verließ, schenkte dieser ihm zum Abschied ein Sopransaxophon, das er künftig neben dem Tenorsaxophon einsetzte.

Der bereits in einem religiösen Umfeld aufgewachsene Musiker hatte sich während eines Drogenentzugs verstärkt der Religion zugewandt. „A Love Supreme“ wurde nicht selten als „großes Gebet des Jazz“ bezeichnet, das in einer einzigen Session im Dezember 1964 von Coltranes Quartett eingespielt wurde. Die Musik steigert sich mit dem mantrahaften Motiv immer mehr in intensive Improvisationen und endet gar meditativ. Die Hörer erfasst ein langer, über das ganze Album anhaltender Sog. Die spirituelle Kraft des Albums weist auf dessen explizite Religiosität hin: Mit den Worten „All praise to God“ und „Thank you God. Amen“ schloss Coltrane seine Texte auf der Plattenhülle, deren Vorderseite ein Portrait des Musikers zeigt.
Coltrane nahm das 33-minütige Album mit dem Pianisten McCoy Tyner, dem Schlagzeuger Elvin Jones und dem Bassisten Jimmy Garrison auf, produziert wurde es von Bob Thiele im Van Gelder Studio in Hackensack (New Jersey). Die Wirkung des Albums hält bis heute an. „Als ich ‚A Love Supreme‘ zum ersten Mal hörte, traf es mich wie ein Überfall“, sagte einmal der berühmte Gitarrist Carlos Santana. „Was mich anging, hätte es vom Mars stammen können oder von einer anderen Galaxie.“
Coltrane suchte fanatisch nach neuen Klängen. Mit „A Love Supreme“ war er auf dem Höhepunkt. Doch bald darauf sollte sein Leben enden. Gut zweieinhalb Jahre später starb er an einer Leberzirrhose im Alter von 40 Jahren. Zur Live-Aufführung des Albums war es am 27. Juli 1965 beim Festival in Antibes gekommen, in einer 15 Minuten längeren Fassung, eine weitere im Oktober desselben Jahres in Seattle. Sie wurde erst 2021 veröffentlicht.
Vom Publikum geliebt, vom Künstler gehasst
Kaum eine Live-Aufnahme wird einerseits vom Publikum so sehr geliebt und zugleich vom Künstler gehasst, wie das „Köln Concert“. Pianist Keith Jarrett hätte es am liebsten aus dem allgemeinen Gedächtnis getilgt. Dabei wäre das Konzert am 24. Januar 1975 in der Kölner Oper fast ausgefallen. Aufgrund einer Verwechslung stand ein völlig ungenügender und verstimmter Flügel bereit, der sonst für Proben verwendet wurde und bei dem ein paar Tasten und angeblich auch die Pedale klemmten. Jarrett, übermüdet nach einer langen Anfahrt im Auto, wollte eigentlich absagen, ließ sich dann aber überreden. Dem legendären Konzert wurde dieses Jahr sogar ein Film, „Köln 75“, gewidmet.

Ausgerechnet diese Live-Aufnahme wurde der größte Erfolg des vorher schon erfolgreichen, noch nicht 30-jährigen, für seine langen Solo-Improvisationen berühmten Stars, die meistverkaufte Jazz-Soloplatte und Klavier-Soloplatte. Jarrett musste vereinfachen, auf manche Feinstruktur verzichten. Dadurch wurde die Musik besonders griffig. Der luxemburgische Fotograf Raymond Clement erzählte mir einmal, wie schwierig der Amerikaner sonst bei Live-Auftritten war: „Er verbat dem Publikum zu fotografieren und sagte: ‚Wenn ich einen Klick höre, ist das Konzert zu Ende.‘ Ich erwischte trotzdem einen Moment, in dem ich doch noch ein Foto von ihm schießen konnte.“
Clement schilderte mir auch die Begegnung mit Miles Davis. Als dieser nach einer Pause von 1975 bis 1980, in der unter anderem dem Alkohol und Heroin verfallen war, nicht mehr seine Trompete angerührt hatte und nicht aufgetreten war, auf die Bühne zurückkehrte, fotografierte Clement ihn wieder 1983 bei einem Konzert. Und er erlebte den großen Meister am Ende von dessen Leben: „Er spielte Anfang Juli 1991 in Wiltz. Es war sehr kalt für diese Jahreszeit. Manche aus dem Publikum waren früh gegangen. Doch Miles spielte wie eh und je. Wie ein Gott.“ Knapp drei Monate später starb Davis in Santa Monica, nachdem er einen Schlaganfall erlitten hatte und ins Koma gefallen war.
De Maart

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