Sonntag9. November 2025

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RegierungswechselIn der EU besteht Hoffnung auf mehr Vernunft in London

Regierungswechsel / In der EU besteht Hoffnung auf mehr Vernunft in London
Der neue britische Premier Rishi Sunak muss ebenfalls die Beziehungen zur EU, dem wichtigsten Handelspartner der Insel, verbessern Foto: AFP/Justin Tallis

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Er gehörte zu den knallharten Brexit-Befürwortern. Als neuer britischer Premier erweckt Rishi Sunak jedoch den Eindruck, pragmatischer vorgehen zu wollen. In Brüssel verbinden das die Verantwortlichen mit neuen Erwartungen, Reibungen zu vermindern und Großkonflikte zu umgehen.

Beim Blick auf den neuerlichen Regierungswechsel in London haben sich die Mienen der professionellen Britannien-Beobachter in Brüssel leicht aufgehellt. Wollten Boris Johnson und Liz Truss noch das mühsam ausgehandelte Warenkontroll-Abkommen mit der EU zum Einsturz bringen und damit die gesamten Handelsbeziehungen in Frage stellen, werden dem neuen Premier Rishi Sunak pragmatischere Lösungen zugetraut. Allerdings mahnt der Chef des Auswärtigen Ausschusses des Europa-Parlamentes, David McAllister, zur Erkenntnis von Sunak bei dessen Antrittsrede, Vertrauen zurückgewinnen zu müssen: „Das gilt nicht nur im eigenen Land, sondern auch gegenüber der Europäischen Union.“

Der Konfliktpunkt mit gewaltiger Sprengkraft besteht aus dem sogenannten Protokoll für Irland und Nordirland. Darin versuchten Großbritannien und die EU beim Brexit einen Interessenausgleich hinzukriegen. Die EU hat ihre Außengrenze nun zwischen Irland und Nordirland und wollte die Warenkontrollen und Qualitätsauflagen wie an allen anderen Grenzen für alle Produkte, die in die EU geliefert werden, im Grundsatz eingehalten wissen. Großbritannien bestand auf dem gegenteiligen Grundsatz, dass das Land mit der EU zwar auch den europäischen Binnenmarkt verlassen hat, dass aber der Warenstrom zwischen England und Nordirland unkontrolliert bleibt und die Grenzen zwischen Irland und Nordirland offen bleiben.

Heraus kam als Kompromiss eine hochspezialisierte Regelung mit fortgeltenden Zollbestimmungen und Anforderungen für eine Reihe von Produkten mitsamt Überprüfungen und umfangreichen Meldeverpflichtungen. Alles, um keine Kontrollen zwischen Irland und Nordirland einzuführen und damit die Spannungen zwischen irischen und britischen Bewegungen nicht wieder anzustacheln. Allerdings trug das Abkommen dazu bei, dass Nordirland eine arbeitsfähige gemeinsame Regierung verlor und nun auf Neuwahlen zusteuert. Großbritannien zeigte von Anfang an wenig Neigung, das Abkommen einzuhalten, weswegen die EU inzwischen drei Vertragsverletzungsverfahren einleitete.

Die Regierung Johnson hat den Großkonflikt gesucht und ein Gesetz auf den Weg gebracht, um die Vereinbarungen mit der EU einseitig aufzukündigen. Truss machte dieses Vorhaben noch zu den Dingen, die sie mit hoher Priorität angehen wollte. Sunak erwähnte es in seiner kurzen Regierungserklärung überhaupt nicht, versprach den Vorrang von „Notwendigkeiten über Politik“. Doch im Gesetzgebungsprozess des Unterhauses steckt zugleich eine Radikalkur, mit der mehrere tausend EU-Regelungen aus der Zeit der britischen Mitgliedschaft ausgesetzt werden sollen. Das wäre der Super-Gau für die Handelsbeziehungen und würde den Export britischer Waren nach anderen Standards in die EU weiter erschweren.

Kein grundsätzlicher Kurswechsel

Schon jetzt wachsen bei vielen Briten die Zweifel, ob der Brexit ihnen gut bekommen ist. Das 52:48-Ergebnis hat sich nach der radikalen Umsetzung durch Johnson umgedreht. Nur noch 34 Prozent halten den Austritt für richtig. Erst vor wenigen Tagen marschierten wieder Tausende durch London, die den Wiedereintritt ihres Landes in die EU forderten. Der Politikwissenschaftler Anthony Glees sagte auch der neuen Regierung schwierige Zeiten voraus, wenn sie wieder für mehr Wirtschaftswachstum sorgen, die Ursache des Brexit für die wirtschaftlichen Probleme des Landes aber verdrängen würde.

McAllister weiß sehr genau, dass Sunak das Gesetz, das Teile des Nordirland-Protokolls außer Kraft setzen soll, mit auf den Weg gebracht hat. Der EVP-Politiker erwartet denn auch keinen grundsätzlichen Kurswechsel von dem langjährigen Brexit-Befürworter. „Trotzdem versprechen wir uns in der EU eine vernunftgesteuertere und weniger konfrontative Diskussionskultur“, sagte McAlllister dem Tageblatt. Der neue Premier gelte als finanzieller und wirtschaftlicher Praktiker. Er werde deshalb versuchen, eine Lösung zu finden, die das Vereinigte Königreich in ruhigere Fahrwasser führt.

Diese Sicht teilt die Vorsitzende des Binnenmarktausschusses des Europäischen Parlamentes, Anna Cavazzini. „Ich habe die Hoffnung, dass Premierminister Sunak in seinen Beziehungen zur EU pragmatischer sein wird als seine Vorgänger – auch wegen der desolaten wirtschaftlichen Lage, in der sich das Vereinigte Königreich aktuell befindet“, sagte die Grünen-Politiker dem Tageblatt. Schließlich sei ein Handelskrieg mit seinem größten Nachbarn „das Letzte, was das Land gerade gebrauchen kann“. Zentral sei, endlich eine Lösung im Streit um das Nordirland-Protokoll zu finden. „Ich erwarte von der neuen britischen Regierung eine konstruktive Herangehensweise, sodass wir endlich die praktischen Probleme lösen, aber gleichzeitig die ausgehandelten Verträge einhalten können“, unterstrich Cavazzini.