Mittwoch29. Oktober 2025

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Bosnien-Herzegowina Immer besser organisierte Schleppernetzwerke schleusen ihre Kunden durch Südosteuropa

Bosnien-Herzegowina  / Immer besser organisierte Schleppernetzwerke schleusen ihre Kunden durch Südosteuropa
Wenn Lächeln und ein paar freundliche Worte genauso wichtig wie Sachspenden sind: Geflüchtete in Bihac mit Aktivisten der Hilfsorganisation „SOS Balkanroute“ Foto: Tomislav Rosandic/SOS Balkanroute

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Kaum mehr sichtbar und erfasst, aber immer für kürzere Zeit unterwegs: Gut vernetzte Schlepper schleusen Geflüchtete auf der Balkanroute stets schneller an ihr Ziel – trotz vermehrter Kontrollen und höherer Zäune. Auf der Strecke bleiben die Ärmsten, die keine Mittel mehr für die Dienste der Menschenschmuggler haben.

Hüfthohes Gestrüpp überwuchert den Pfad unweit der verrosteten Gleise. Asim Karabegovic kennt den Weg zu dem verfallenen Wasserturm am Rande der westbosnischen Stadt Bihac – und weiß, wo er seine Schutzbefohlenen zu suchen hat.

Mit einem leisen Knarren öffnet der Mitarbeiter der Hilfsorganisation „SOS Balkanroute“ die schwere Metalltür. Neben Bergen schwarzer Müllsäcke und einer verkohlten Feuerstelle windet sich eine steile Betontreppe ins Obergeschoss. An der Wand findet sich auf einem fotokopierten DIN-A4-Papier eine mehrsprachige Botschaft – auf Somalisch, Chinesisch und Maledivisch: „Wenn Sie nach Europa reisen möchten, können wir Ihnen helfen. Bitte rufen Sie diese WhatsApp-Nummer an. Danke schön.“

Die Schlepper seien „immer zahlreicher und stets besser organisiert“, erklärt Asim das Phänomen, dass in Bihac trotz der Nähe zur kroatischen Grenze kaum mehr Flüchtlinge zu sehen sind. Statt wie früher im Zentrum biwakierten sie nun in Fabrikruinen, Lagerhäusern oder abgestellten Lkw-Anhängern am Stadtrand, bevor sie bei Velika Kladusa die Grenzpassage versuchten: „Die Leute bleiben viel kürzer in Bihac – und in Bosnien.“

Enten watscheln am Ufer der Una durch den Stadtpark. Händchenhaltend schlendert ein Paar an der mit Baugittern verriegelten Ruine vorbei. Als Altenheim mit Blick auf den Fluss war der mächtige Rohbau zu jugoslawischen Zeiten geplant worden. Doch erst stoppte der Bosnienkrieg (1992-1995) die Bauarbeiten. Dann wurde die zum wilden Flüchtlingslager umfunktionierte Bauruine Ende 2017 zum „Hotspot“ der sich ständig ändernden Balkanroute: Tausende von gestrandeten Geflüchteten sorgten in der 40.000-Einwohner zählenden Provinzstadt für einen jahrelangen Ausnahmezustand.

„Menschen in Not muss man helfen“, ist Asim Karabegovic (63) überzeugt
„Menschen in Not muss man helfen“, ist Asim Karabegovic (63) überzeugt Foto: Tomislav Rosandic/SOS Balkanroute

Er habe damals einen Laden unweit des Stadtparks betrieben, erinnert sich der heute 63-jährige Asim: „Die Flüchtlinge fragten mich, ob sie ihre Telefone aufladen könnten, oder baten um etwas Wasser. Bald begann ich, bei Bekannten auch Kleidung und Schuhe zu sammeln, die ich ihnen geben konnte.“

Menschen in Not müsse man helfen, so die damalige und heutige Überzeugung des inzwischen pensionierten Kaufmanns. Viele seiner damaligen Kunden und Bekannten zeigten für seine Hilfsbereitschaft indes weniger Verständnis: „Einige hörten auf, bei mir zu kaufen. Andere wandten den Kopf ab, wenn sie mich auf der Straße trafen.“ „Druck“ habe er jahrelang auch von der Polizei verspürt: „Regelmäßig wurde mein Laden kontrolliert und ich für lächerliche Kleinigkeiten zu Geldstrafen verdonnert.“

Um die Stadt zu entlasten, richtete die überforderte Kommune im Sommer 2019 auf einer früheren Mülldeponie das Aufnahmelager „Vucjak“ ein: Als „Bosniens Lager der Schande“ sollte das abgelegene Camp wegen der katastrophalen Bedingungen selbst international für Schlagzeilen sorgen: Erst nach einem Hungerstreik der Insassen und Protesten von Hilfsorganisationen wurde das Skandallager Ende 2019 geschlossen.

Verschärfte Kontrollen erhöhen Tarife der Schlepper

Als sich der Wiener Petar Rosandic mit der von ihm gegründeten Hilfsorganisation „SOS Balkanroute“ 2019 in Bihac zu engagieren begann, „hingen die Leute hier monatelang fest, in den schlimmsten Fällen gar ein, zwei Jahre“, berichtet der frühere Journalist: „Heute halten sich die meisten im Durchschnitt nur noch zwei bis vier Tage in Bosnien auf. Nur diejenigen, die kaum oder keine Mittel mehr für die Schlepper haben und von den kroatischen Grenzern immer wieder zurückgeprügelt werden, harren länger aus.“

Die Schmugglernetzwerke sind mächtiger als je zuvor. Sie diktieren, wann wer zu welchem Preis durchkommt

Petar Rosandic, Gründer von SOS Balkanroute

Allein und auf eigene Faust seien auf der Balkanroute im Gegensatz zu früher nur noch „die Ärmsten, die Verletzlichsten und die Schwächsten“ unterwegs, so Rosandic: „Das sind die Leute, um die wir uns vor allem kümmern.“

Verschärfte Kontrollen und mehr Grenzzäune haben seiner Erfahrung nach vor allem die Tarife der Schleppernetzwerke erhöht – und deren Position eher gestärkt als geschwächt: „Die Schmugglernetzwerke sind mächtiger als je zuvor. Sie diktieren, wann wer zu welchem Preis durchkommt. Die Schlepper haben die Deutungshoheit und beherrschen die Route – und das durchgehend.“

Wenn die Leute von Bulgarien nach Serbien gelangen, verschwinden sie sofort in einem Schlepperkombi, statt sich erst im Lager zu registrieren

Rados Djurovic, Direktor des Zentrums zum Schutz für Asylsuchende in Belgrad

Seine Beobachtungen in Bosnien bestätigen auch Hilfsorganisationen im benachbarten Serbien. Weil auf Druck der EU-Partner in diesem Jahr nahezu alle Aufnahmelager in Grenznähe geschlossen worden seien, hätten die staatlichen Institutionen ebenso wie private Hilfsorganisationen und die Polizei den Überblick über die Migrationsbewegungen weitgehend verloren, berichtet Rados Djurovic, der Direktor des Zentrums zum Schutz für Asylsuchende in Belgrad: „Wenn die Leute von Bulgarien nach Serbien gelangen, verschwinden sie sofort in einem Schlepperkombi, statt sich erst im Lager zu registrieren.“

Selbst in den Jahren 2021 bis 2023, in denen sich die meisten Transitmigranten noch registrieren ließen und meist über Ungarn nach Westen weiterzogen, verkürzte sich deren Verweildauer in Serbien laut Angaben des staatlichen Flüchtlingskommissariats von 30 auf 12 Tage, Tendenz fallend.

Verstärkte Polizeirazzien führten Ende 2023 laut Djurovic in Nordserbien zwar zur „Zerschlagung einiger lokaler Schlepperbanden“ und zur erneuten Umleitung des Hauptarms der Balkanroute von Ungarn nach Bosnien. Doch die „sehr geschlossenen“ und meist von Istanbul aus koordinierten Schlepperketten seien „intakt geblieben“: „Die Leute bezahlen meist bereits in der Türkei für die gesamte Passage. Sie erhalten vorab genaue Instruktionen – und werden dann von Land zu Land von anderen lokalen Schleppergruppen übernommen, die mit den internationalen Netzwerken kooperieren.“

Früher kamen die Flüchtlinge zu ihm, nun kommt er zu ihnen: Mit angelernten Arabisch- oder Pantschu-Brocken spricht Asim in Bihac die von ihm aufgestöberten Grenzgänger in Ruinen, auf Industriebrachen, an Ausfallstraßen oder an Tankstellen an. Ob Jogginghosen, Milch, Kekse, Schuhe oder Wasserflaschen: Jede Hilfe ist bei den Männern mit den müden Blicken gefragt.

„Perverse“ Exzesse der kroatischen Polizei

Die meisten der jungen Syrer, Afghanen oder Marokkaner, die Asim hinter dem Busbahnhof von Bihac mit Nahrungsmitteltüten und Kleiderspenden aus dem Kombi der „SOS Balkanroute“ versorgt, können sich schon längst keinen Schlepper mehr leisten. Die kroatische Polizei habe ihm „erst das Geld und das Telefon abgenommen und dann meinen Rucksack verbrannt“, erzählt der 24-jährige Syrer Abdullah in gebrochenem Englisch. Auf die Frage nach seinem Ziel antwortet er „Deutschland“ und zuckt die Schultern: „Wenn Gott es will.“

„Die Schleppernetzwerke beherrschen die Balkanroute – und das durchgehend“, sagt Petar Rosandic (40), Mitbegründer von SOS Balkanroute
„Die Schleppernetzwerke beherrschen die Balkanroute – und das durchgehend“, sagt Petar Rosandic (40), Mitbegründer von SOS Balkanroute Foto: Tomislav Rosandic/SOS Balkanroute

„Perverse“ Exzesse der kroatischen Polizei wie Folterungen oder das Besprühen von Köpfen mit Kreuzen seien beim illegalen „Pushback“, dem gewaltsamen Abdrängen von Flüchtlingen über die grüne Grenze, zwar seltener geworden, so Rosandic. Doch es sei „schlimm genug“, dass die Leute weiter „systematisch getreten und geschlagen“ und ihrer Habseligkeiten beraubt würden.

Über Geflüchtete wird nur noch in Bedrohungsszenarien gesprochen. Über das Schicksal dieser Menschen verliert kaum mehr ein Wort.

Petar Rosandic, Gründer der Hilfsorganisation „SOS Balkanroute“

Dankend nehmen fünf Afghanen am Wasserturm die ihnen von Asmin überreichten Hilfsgüter entgegen. „Genauso wichtig“ wie Nahrungsmittel und Kleidung sei für viele auch, „dass man mit ihnen redet und sie anlächelt“, sagt Rosandic und klagt über die „Entmenschlichung“ beim Umgang – und in der Migrationsdebatte: „Über Geflüchtete wird nur noch in Bedrohungsszenarien gesprochen. Über das Schicksal dieser Menschen verliert kaum mehr ein Wort.“

Nebelschwaden stehen über den Wäldern der umliegenden Hügel. Still trotten einige verschlafen wirkende Männer zur Frühstücksausgabe. Ton- und Foto-Aufnahmen seien in der abgezäunten Container-Siedlung nicht gestattet, sagt die blonde Polizistin, die Besucher durch das Aufnahmelager Lipa lotst.

1.500 Plätze sei die Kapazität des Aufnahmelagers, derzeit „300, 400“ belegt, so die Beamtin. Im Sommer sei das Camp „fast leer“, im Winter voller: „Die Leute ruhen sich hier vor der Weiterreise etwas aus – oder erholen sich von ihren Verletzungen.“ Die durchschnittliche Verweildauer liege bei „vier, fünf Tagen“: „Die Grenze ist hier zu weit weg. Darum bleiben sie nicht lange.“

Nur die Ärmsten sind noch auf eigene Faust unterwegs: Geflüchtete auf der Balkanroute bei Bihac/Bosnien
Nur die Ärmsten sind noch auf eigene Faust unterwegs: Geflüchtete auf der Balkanroute bei Bihac/Bosnien Foto: Tomislav Rosandic/SOS Balkanroute

Es wirkt fast, als sollten Aufnahmewillige erst gar nicht kommen. Die Gemeinschaftsküche zum Selbstkochen ist leer. Die einstigen Läden vor dem Lagertor sind längst verfallen – und verriegelt. Bis zu 100 Euro nehmen Taxifahrer für die Fahrt von der Stadt in das abgelegene, für Flüchtlinge ansonsten nur zu Fuß erreichbare Lager: Auf Drängen der EU wurde Lipa im Frühjahr 2020 rund 25 Kilometer entfernt von Bihac angelegt.

Zunächst als Notlösung während der Pandemie gedacht, sollte das damals keineswegs winterfeste Zeltlager schon bald ins Gerede geraten. Am selben Tag, als die UN-Flüchtlingsorganisation IOM im Dezember 2020 endlich die Räumung des Lagers beschloss, wurde es von Unbekannten in Brand gesteckt.

Ungenehmigter Gefängnistrakt

2021 wurde Lipa mithilfe von EU-Geldern zwar in eine beheizbare Containersiedlung umgebaut. Doch der Bau eines mysteriösen Gefängnistrakts sollte das Camp erneut in die Schlagzeilen katapultieren: Die SOS Balkanroute warf der EU und dem mit dem Bau beauftragten Internationalen Zentrum für Migrationspolitik (ICMPD) in Wien vor, in Lipa klammheimlich ein außerhalb der EU gelegenes Abschiebegefängnis einrichten zu wollen.

Als Rosandic im Frühjahr 2023 vor einem „Guantanamo“ in Lipa warnte, verklagte ihn das ICMPD wegen Rufschädigung zur Zahlung von 55.000 Euro einschließlich Anwaltskosten. Die Einschüchterungsklage hatte allerdings keinen Erfolg. Im Gegenteil.

Erst sprach das Wiener Handelsgericht mit Verweis auf die Meinungsfreiheit den Flüchtlingsaktivist im Sommer 2023 frei. Dann versicherte Bosniens Menschenrechtsminister im Mai, dass der Gefängnistrakt nie in Betrieb gehen werde. Inzwischen kursieren in Bihac Berichte, wonach die Bauinspektion gar die Demontage des von ihr nie genehmigten Lagergefängnisses plane.

„Sie waren Menschen wie wir und haben sich ein Grab verdient“: Flüchtlingsaktivist Asim bei Gräbern namenloser und nicht identifizierter Geflüchteter auf dem Friedhof von Bihac
„Sie waren Menschen wie wir und haben sich ein Grab verdient“: Flüchtlingsaktivist Asim bei Gräbern namenloser und nicht identifizierter Geflüchteter auf dem Friedhof von Bihac Foto: Tomislav Rosandic/SOS Balkanroute

Die 500.000 Euro an Steuergeldern, die die EU für den Bau des ungenehmigten Gefängnistrakts vermutlich in den Sand gesetzt hat, hält Rosandic für einen Ausdruck der „völligen Plan- und Konzeptlosigkeit“ der europäischen Migrationspolitik. Für „widersinnig“ hält er es auch, dass in den über Personalmangel klagenden Anrainerstaaten wie Kroatien oder Ungarn zunehmend Arbeitskräfte aus Fernost angeworben werden, während gleichzeitig junge Geflüchtete aus derselben Region zurückgeprügelt würden: „Dabei suchen diese Leute alle dasselbe – Arbeit und eine Perspektive.“

Die Geschäfte der Schlepper florieren

Tatsächlich scheinen die Millionen, die die EU bisher in den Schutz ihrer Außengrenzen pumpt, in keinerlei Verhältnis zum mageren Ergebnis zu stehen. Trotz vermehrter Patrouillen und Stacheldrahtrollen florieren nur die Geschäfte der Schleppernetzwerke – auf Kosten der verstärkt in deren Arme getriebenen Geflüchteten: Aus der Öffentlichkeit abgetaucht und von den Anrainerstaaten zunehmend sich selbst und den Schleppern überlassen, sind sie auf der Balkanroute verstärkten Sicherheitsrisiken ausgesetzt.

Wenn irgendwann Angehörige hier ihre vermissten Söhne oder Brüder suchen sollten, haben wir zu jedem Grab alle Informationen gesammelt.

Asim Karabegovic, Mitarbeiter von SOS Balkanroute

Hell gleißt die Herbstsonne über dem Friedhof von Bihac. Als Schattengänger auf der Balkanroute wurden sie zu Lebzeiten kaum bemerkt. Doch zumindest nach ihrem Tod haben die Grenzgänger auf dem Gottesacker ihre Spuren hinterlassen: 17 Gräber von in Bihac ums Leben gekommenen Geflüchteten sind mithilfe von SOS Balkanroute überholt und mit Grabsteinen versehen worden. Egal, ob auf den Gräbern der unbekannten Toten „NN – no name“ vermeldet ist oder auf den Grabsteinen die Namen der identifizierten Verstorbenen stehen – von jedem der bestatteten Flüchtlinge kennt Asim zumindest die Todesursache.

Abgelegen und kaum ausgelastet: das Aufnahmelager Lipa bei Bihac/Bosnien und Herzegowina
Abgelegen und kaum ausgelastet: das Aufnahmelager Lipa bei Bihac/Bosnien und Herzegowina Foto: David Pichler

Ob die Verstorbenen im Schlaf verbrannten, von einem Lkw überrollt wurden, bei Unfällen ihres Schlepperkombis den Tod fanden, bei der Grenzpassage ertranken, vor Erschöpfung starben, bei Streitereien ermordet oder von einem Jäger versehentlich erschossen wurden: Jeder Fall sei dokumentiert, versichert Asim: „Wenn irgendwann Angehörige hier ihre vermissten Söhne oder Brüder suchen sollten, haben wir zu jedem Grab alle Informationen gesammelt.“

Alle Verstorbenen seien Menschen gewesen, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Leben verloren hätten, erläutert Asim, warum er sich in Bihac nicht nur um lebende, sondern auch um verstorbene Geflüchtete kümmert: „Das waren Menschen wie wir. Sie dürfen nicht einfach wie Tierkadaver verscharrt und vergessen werden. Sie verdienen Würde – und ein Grab.“