Ukrainer in LuxemburgIm Exil und mit den Gedanken in der Heimat

Ukrainer in Luxemburg / Im Exil und mit den Gedanken in der Heimat
Solidaritätsdemo für die Ukraine im Februar 2023 Foto: Tageblatt-Archiv/Didier Sylvestre

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Der Krieg, der vor zehn Jahren im Osten der Ukraine ausbrach und mit dem Angriff von Russlands Armee sich auf das ganze Land ausweitete, hat viele Menschen in die Flucht und ins Exil getrieben. Ukrainer in Luxemburg sprechen darüber, was sie erlebt haben, und davon, was sie sich erträumen.

Blau und Gelb – die etwa 50 Personen, die Anfang März 2014 vor die russische Botschaft in Beggen gezogen sind, tragen die Nationalfarben der Ukraine auf Fahnen und Transparenten. Sie demonstrieren gegen die aggressive Politik von Wladimir Putin und warnen vor einem Krieg. Auf einigen Plakaten ist der Kremlchef mit einem Hitler-Bärtchen zu sehen.

Auch Kateryna Okhrimenko befindet sich unter den Demonstranten. Ich habe sie in der Zeit nach den Maidan-Protesten in Kiew Ende 2013, Anfang 2014 kennengelernt. Die Demonstranten des sogenannten Euromaidan fordern zu dieser Zeit die Amtsenthebung von Wiktor Janukowitsch. Der russlandtreue Politiker, manche würden ihn als Moskauer Marionette bezeichnen, ist noch ukrainischer Präsident. Schließlich wird er gestürzt.

Kateryna arbeitet heute als Karriereberaterin. Für die Demo vor der russischen Botschaft hat sie damals auf einen Wochenendtrip nach Barcelona verzichtet. Russland hat kurz zuvor die zur Ukraine gehörende Krim besetzt. Die Halbinsel wird von den Russen annektiert und schließlich am 18. März 2014 völkerrechtswidrig eingegliedert. Derweil ist im Osten der Ukraine der Krieg ausgebrochen. „Der Krieg hat nicht erst vor zwei Jahren begonnen“, weiß Kateryna, „sondern im Frühjahr 2014“. Sie bietet mir an, mit ihren Eltern über Skype zu sprechen. Längst ist der Riss zwischen Russen und Ukrainern zu spüren. Ein Riss, der durch unzählige Familien geht.

Riss durch die Familien

Katerynas Vater Myckola erzählt mir, während er in seinem Wohnzimmer in Odessa neben seiner Frau Olga sitzt, von dem Zerwürfnis zwischen ihm und seinem Bruder Vadim, der in der russischen Region Krasnodar lebt. „Vadim glaubte ernsthaft, die Faschisten hätten bei uns die Macht übernommen“, sagt Myckola. Er könne sich das nur so erklären, dass Vadim der russischen Propaganda auf den Leim gegangen ist.

Myckola und Kateryna Okhrimenko sowie Rocco
Myckola und Kateryna Okhrimenko sowie Rocco Foto: Hervé Montaigu/Editpress 

Zu diesem Zeitpunkt ist noch kein Schuss zwischen Russland und der Ukraine gefallen. Doch es dauert nicht lange, bis in den ukrainischen Bezirken Donezk und Luhansk, als „Donbass“ bezeichnet, von Russland gesteuerte Gruppen intervenieren und die Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausrufen. Im April 2014 startet die Ukraine eine militärische „Anti-Terror-Operation“ gegen die „Autonomisten“. Der Krieg hält trotz zweier Waffenstillstandsabkommen an. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 dehnt er sich auf das ganze Land aus.

Als er die ersten Explosionen hört, ist Myckola auf dem Weg zur Arbeit. „Es kam von außerhalb der Stadt“, sagt er. „Ein Knall, wie ich ihn noch nie zuvor gehört habe. Dann noch mal einer. Es waren mehrere. Vielleicht drei. Ich weiß nicht mehr, wie viele es genau waren.“ Als der Automechaniker an seinem Arbeitsplatz in der Mercedes-Benz-Niederlassung von Odessa ankommt, werden die Beschäftigten zusammengerufen. Es heißt, die russische Armee habe die Ukraine angegriffen und auch die Stadt am Schwarzen Meer beschossen. Die Mitarbeiter können nach Hause zurückkehren.

Myckola kann bei einem Freund mitfahren. Als ich ihn wieder per Video-Call von Luxemburg aus erreiche, sitzt er zusammen mit einem Freund und einer Bekannten, die aus München nach Odessa gekommen ist, um ihre Familie zu besuchen, im Wohnzimmer. „Vorher war ich noch mit dem Hund draußen. Ich ging auf dem Primorsky-Boulevard spazieren“, erzählt er. „Die Straße war wie leergefegt, es lag ein eigenartiger Geruch über der Stadt.“ Von ihr aus, unweit der berühmten Potemkinschen Treppe, kann er aufs Meer hinausschauen. „Von dort haben sie die Stadt bombardiert.“ Später bestätigt die russische Nachrichtenagentur Interfax, dass Russlands Schwarzmeerflotte die Hafenstädte Odessa und Mariupol angegriffen hat.

Zehn Jahre Krieg

Als der russische Angriffskrieg in der Ukraine ausbricht, sind im Osten des Landes schon etwa 14.000 Menschen ums Leben gekommen. Wie die Krim ist Odessa strategisch von großer Bedeutung. Die Millionenstadt hat außerdem einen hohen russischen Bevölkerungsanteil. Doch nicht nur Odessa ist zum Ziel der Militärinvasion geworden, auch die anderen Städte des Landes. Die Russen fallen vom Norden, Nordosten und Osten in die Ukraine ein. Hauptziel ist, wie sich schnell herauskristallisiert, die Hauptstadt Kiew.

Wie die meisten Ukrainer, die in Luxemburg leben, ist Kateryna am Donnerstag, dem 24. Februar 2022 in den frühen Morgenstunden von ihren Angehörigen in der Heimat über den Überfall der russischen Armee auf die Ukraine informiert worden. Zwar hat sich die Lage schon seit Wochen zugespitzt und sind die unverhohlenen Drohungen von Russlands Präsident Wladimir Putin, das Land anzugreifen, immer drastischer geworden.

Doch für viele fühlt sich alles irgendwie surreal an. Sie können den Schrecken des Krieges noch nicht richtig in Worte fassen. Sie fühlen sich ohnmächtig. Wovor die US-Regierung und amerikanischen Geheimdienste warnten, ist schließlich wahr geworden. Russland greift die Ukraine an – das Brudervolk, wie es Putin genannt hat und von dem er in einem im August 2021 verbreiteten Aufsatz behauptet hat, es gehöre auf immer und ewig zu Russland.

Er sei bereit gewesen, zu kämpfen, sagt Myckola Okhrimenko. Er hätte zur Waffe gegriffen, um sein Land zu verteidigen. Doch nur die 18- bis 60-jährigen Männer werden aufgerufen, zu bleiben, um zu kämpfen. Nun, in den ersten Tagen des russischen Bombenterrors, sitzt der zu diesem Zeitpunkt 61-Jährige zusammen mit Katerynas Großmutter, einem anderen älteren Mann und seinem Hund Rocco in einem Auto in Richtung Westen. Sie sind zur Grenze nach Moldawien unterwegs. Dort können sie in einem Gästehaus übernachten. Kateryna holt ihren Vater und Rocco in Budapest ab.

Als ich vor zwei Jahren mit einem Hilfskonvoi aus dem Westen zur polnisch-ukrainischen Grenze aufbreche, kann ich mir noch nicht richtig vorstellen, was auf mich zukommt. Im Laderaum des Kleintransporters befinden sich Medikamente und Sanitärartikel, Kinderkleidung und Babynahrung. Eine Woche später werde ich mit einem Fotografen fast dieselbe Route fahren: über Dresden und Krakau, wo wir übernachten, bis nach Przemysl kurz vor der Grenze.

Abschied am Grenzzaun

Unzählige Menschen sind vor den Kriegswirren geflohen: mit dem Zug oder per Bus in die polnische Stadt am äußeren Rand der Europäischen Union – oder zu Fuß in das Grenzdorf Medyka. Ein Bild werde ich nie vergessen: das eines ukrainischen Soldaten, der sich direkt an einem Gittertor am Grenzzaun von seiner Frau und seinen beiden Kindern verabschiedet. Unzählige Tränen werden an diesem Tor vergossen, vor Trennungsschmerz, vor Ungewissheit.

Auch Olena Panchenko hat ihren Mann zurücklassen müssen, als sie vor zwei Jahren mit ihren beiden Kindern nach Luxemburg gekommen ist. Sie waren aus dem heftig umkämpften Charkiw im Nordosten der Ukraine geflohen. „Es war sehr gefährlich. Wir waren mit zwei Autos aufgebrochen“, erinnert sich die heute 17-jährige Sofya. „Ich saß in einem, mein Bruder im anderen.“

An der Grenze zu Rumänien angekommen, überqueren Olena und die Kinder diese zu Fuß, bevor sie mit dem Zug nach Bukarest fahren. Von dort nehmen sie das nächste Flugzeug. „Wir kannten bereits jemanden in Luxemburg“, sagt Olena, „und kontaktierten bei unserer Ankunft LUkraine, die Vereinigung der Ukrainer in Luxemburg.“ Die 48-Jährige muss noch immer daran denken, „dass sie in ein fremdes Land ging, um dort zumindest vorübergehend zu leben – ohne zu wissen, wie lange dies dauern soll“.

Für ihren Mann sei es nie eine Option gewiesen, die Ukraine zu verlassen, erklärt Olena. Er hat weiter als Sport- und Tanzlehrer gearbeitet. Auch im Krieg muss der Alltag irgendwie weitergehen, selbst wenn er von ständiger Lebensgefahr geprägt ist – von Angriffen und Bombardements der russischen Invasoren, von Energie- und Lebensmittelknappheit. Olena hat ihren Beruf als Eventmanager aufgegeben. In Luxemburg fängt sie an, Dekorationen für Festlichkeiten herzustellen. Das habe sie schon in der Ukraine gemacht und setze es nun fort, erklärt sie. Die Panchenkos werden von Myriam Feyder und deren Familie in Hesperingen aufgenommen. „Für uns war das selbstverständlich“, so Myriam Feyder. „Schon früher, auf dem Bauernhof meiner Eltern, stand die Tür für andere offen.“ Zuerst habe sie sich an die zuständige staatliche Stelle gewandt, erzählt sie, doch die haben sich nicht zurückgemeldet. „Womöglich waren sie vor allem zu Beginn, als die Flüchtlinge aus der Ukraine kamen, etwas überfordert“, mutmaßt sie.

Schnell und gut organisiert hingegen ist von Anfang an die LUkraine Asbl.: „Sie vermittelte uns Olena und ihre Kinder“, sagt Myriam Feyder. Die Gäste aus Osteuropa lebten sich in ihrer neuen Umgebung gut ein und wohnen noch heute dort. Olena hat die Türen mit dem ukrainischen Wort für das jeweilige Zimmer beschriftet. Eine kleine Geste zur Überbrückung der sprachlichen Barrieren, die zwischen vielen Ukrainern und ihren Gastfamilien bestehen.

Sprachbarrieren

Denn die Verständigung fällt oftmals schwer. Olena zum Beispiel spricht nur gebrochen Englisch. Zwar werden am „Centre des langues“ Sprachkurse für die Neuankömmlinge angeboten. Doch aller Anfang ist schwer. Das gilt nicht so sehr für die jüngere Generation: Die Kinder und Jugendlichen haben relativ schnell mindestens eine der drei Amtssprachen erlernt.

So auch Sofya, die sich fließend auf Deutsch ausdrückt und jederzeit ohne Probleme ins Englische wechseln kann. Sie besucht das hauptstädtische „Lycée Michel Lucius“ und hat begonnen, in ihrer Freizeit Unterricht in Gesellschaftstanz zu geben. Seit zwölf Jahren tanzt sie, seit drei Jahren praktiziert sie als Lehrerin. „Ich will wieder an Wettbewerben teilnehmen“, sagt sie, „wie schon in der Ukraine.“ Anfangs hätte die 17-Jährige nicht gedacht, dass der Aufenthalt in der Fremde länger dauern würde.

Inzwischen kommt es für sie nicht in Frage, in ihre ukrainische Heimat zu gehen. Sie hat sich in ihrer neuen Umgebung eingelebt. Eine Freundin von ihr, die auch aus der Ukraine stammt, sei schon seit acht Jahren hier. „Ich empfinde häufig ganz verschiedene Stimmungen“, sagt Olena. „Manchmal denke ich daran, hier zu bleiben, dann überwiegt wieder das Bedürfnis, so schnell wie möglich in mein Land zurückzukehren.“

Myckola hat eine Arbeit gefunden. Der mittlerweile 63-Jährige ist bei einer Firma für landwirtschaftliche Geräte in Diekirch tätig. Eigentlich hat er Mathematik studiert. Während des Studiums an der Universität von Odessa hat er auch seine inzwischen verstorbene Frau Olga kennengelernt. Auch Tochter Kateryna hat eine Schwäche für Zahlen. Sie war lange Zeit Datenanalystin. Heute hat sie ihre eigene Firma für Karriereberatung: „Your Career Enabler. Und sie hat wie ihr Vater eine Leidenschaft für Schach. Sie spielt sogar Online-Schach mit einem ukrainischen Soldaten an der Front.“

Auch Kateryna Fomenko ist Mathematikerin. Sie unterrichtet das Fach an der „École internationale Anne Beffort“ in Mersch (Eimab). Nach dem großen Andrang von ukrainischen Schülern von insgesamt mehr als tausend sei es ruhiger geworden, sagt sie. „In letzter Zeit haben wir keine neuen Schüler hinzubekommen“, sagt sie. Kateryna Fomenko bestätigt, dass die jungen Ukrainer ganz unterschiedlich zurechtkommen. Einige besuchen französischsprachige Aufnahmeklassen, andere wiederum englischsprachige. „Für die Jüngeren ist es sicherlich einfacher“, weiß die Lehrerin. Sie selbst ist mit ihrem Mann, der im Finanzsektor arbeitet, vor sieben Jahren nach Luxemburg gekommen. Ihre Kinder sind drei und fünf Jahre alt.

Kateryna Fomenko unterrichtet Mathematik an der „École internationale Anne Beffort“ in Mersch
Kateryna Fomenko unterrichtet Mathematik an der „École internationale Anne Beffort“ in Mersch Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Sicherlich sei es für manche schwierig, so Kateryna Fomenko. „Andererseits ist es auch eine Chance, so viel wie möglich aus diesem vielsprachigen Land mitzunehmen.“ Sie kann außerdem über die zahlreichen Erfolge berichten, die die Vereinigung LUkraine erzielt hat: etwa die ukrainische Bibliothek im Rollingergrund. „Daraus ist nicht nur eine Bücherei mit einem guten Angebot geworden, sondern ein Treffpunkt für alle Generationen.“ Vor allem sind es aber die zahlreichen Hilfs- und Spendenaktionen gewesen, mit denen LUkraine ihre Landsleute im Ausland und in der Heimat unterstützt.

Eine Wohnung zu finden, ist für Neuankömmlinge zunehmend schwieriger und Privatunterkünfte sind rarer geworden. Über die ersten Aufnahmestellen wurde häufig vonseiten der Betroffenen berichtet, dass dort unwürdige Bedingungen herrschten. Wer nicht von einer Familie aufgenommen wird, dem blieben die Strukturen des „Office national d’accueil“ (ONA): zuerst für ein paar Tage die SHUK-Notunterkunft in Kirchberg, danach das „Bâtiment T“. Nicht zuletzt LUkraine Asbl. übte daran mehrmals Kritik.

Die Vereinigung bietet sowohl Sprachkurse als auch Trainings für Bewerbungsgespräche sowie psychologische Hilfe und Unterstützung bei der Suche von Unterkünften an: „Das Ziel ist es, die Menschen zu ermutigen, sich zu sozialisieren und zu arbeiten, damit sie nicht als abhängige Menschen, sondern als potenzieller Gewinn gesehen werden“, so der LUkraine-Vorsitzende Nicolas Zharov in einem Interview. „Die meisten von ihnen sind qualifiziert und könnten Luxemburg etwas bringen.“

Schwierige Jobsuche

Auf dem Arbeitsmarkt gibt es etliche Hürden, vor allem die Sprachbarrieren. Besonders das Französische bereitet den Flüchtlingen Schwierigkeiten. So hat Maryna Ananieva lange gehofft, bald wieder in ihrem Beruf als Hairstylistin tätig zu sein. „Ich würde gerne arbeiten, aber die fehlenden Sprachkenntnisse haben es mir bisher nicht ermöglicht“, sagt die junge Frau. Mit ihren Kindern Christina, Wowa (Kurzform von Wolodymyr) und Nadja hat sie eine feste Bleibe im Haus von Autumn Le Lievre in Burglinster gefunden. Diese ist selbst Mutter von fünf Kindern. „Wir sind eine richtige Großfamilie geworden“, sagt Autumn Le Lievre, „mir war wichtig, dass sich Maryna wohl und wie zu Hause fühlt.“

Maryna hat genaugenommen zwei Fluchten hinter sich: Die erste fand statt, als 2014 der Separatistenkrieg im Gebiet von Luhansk, ihrer ursprünglichen Heimat, ausbrach. Damals entkam sie nach Dnipro, die nach Kiew, Charkiw und Odessa viertgrößte Stadt der Ukraine. Vergangenes Jahr folgte die Flucht mit dem Zug nach Westeuropa. Inzwischen hat Maryna eine Arbeit gefunden – eine Halbtagsstelle.

Laut Umfrage des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) erklärten 43 Prozent der Flüchtlinge, dass sie bei ihrer Familie oder bei Freunden unterkämen und weitere 14 Prozent über soziale Medien oder Freiwillige etwas gefunden hätten. Persönliche Kontakte waren dabei wichtiger als staatliche Maßnahmen. Allerdings wäre dies alles ohne Visumfreiheit und den bereits genannten Beschluss der Europäischen Union nicht möglich gewesen. Die politische Entscheidung auf EU-Ebene bildete die Basis für die private Willkommenskultur. Allerdings wurde auch immer wieder Kritik laut, „die Behörden machten gar nichts“, wie es ein Gastgeber ausdrückte, sodass die private Initiative die Aufnahme prägte.

„Europaweit war die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge weitgehend von der Zivilgesellschaft getragen“, erklärt der deutsche Politikwissenschaftler und Migrationsforscher Dietrich Thränhardt. „Sie war schneller organisationsfähig als die Bürokratie und brachte die Mehrheit der Flüchtlinge über lange Monate unter. Sie arbeitete auch dann weiter, wenn der Staat, wie in Polen, seine Unterstützung weitgehend aufgab.“

Das ONA ist nach eigenem Bekunden ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten der Unterbringung, ebenso der im Februar 2022 gegründete Verein „Slava Ukrayini“ (Ruhm/Ehre der Ukraine). Zugleich gelte es, an die Zeit danach zu denken, denn die ukrainischen Flüchtlinge haben hier zwar eine vorübergehende Bleibe gefunden, mit den Gedanken sind sie in der Ukraine. Die Sehnsucht nach Hause wird bleiben.

Myckola ist täglich mit seinen Verwandten und Freunden in der Ukraine in Verbindung. Zugleich hat er in Luxemburg neue Freunde gefunden: „Viele Menschen haben mir hier dabei geholfen, mich wohlzufühlen.“ Hilfe fand er zum Beispiel bei der „Association de soutien pour des travailleurs immigrés“ (ASTI) und ihren freiwilligen Helfern. Zwar habe der Krieg vieles verändert. Aber andererseits hat er hierzulande einen Platz gefunden.

Judo statt Kamikaze

Wann er in die Heimat zurückkehren kann, ist ungewiss: Rund 1.700 Kilometer trennen auch Giuseppe Yatsko von seinen Großeltern in der Westukraine. Mit seinen Eltern hat er bereits 2014 in Luxemburg eine neue Heimat gefunden – doch das Verbundenheitsgefühl zum Land seiner Vorfahren ist geblieben. Der 22-jährige Ukrainer mit luxemburgischem Pass sagt: „Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, in den Krieg zu ziehen und für mein Land zu kämpfen. Aber immer wieder musste ich dabei an meine Eltern denken und mir vorstellen, wie das für sie wäre.“ Schließlich sei sein Bruder für ihn „einer der wichtigsten Menschen, den ich nicht hätte verlassen können“. Giuseppe erklärt: „Es hat mir Angst gemacht, alles zu verlieren. Ich habe bisher noch nie darüber gesprochen. Denn wer in den Krieg zieht, endet in einer Kamikaze-Welt, aus der man nicht mehr zurückkehrt.“

Giuseppe Yatsko
Giuseppe Yatsko Foto: privat

Wann die Familie Yatsko ihre Verwandtschaft in Chernivsti, an der rumänischen Grenze, wiedersehen wird, weiß niemand. Besonders die ersten Tage nach der russischen Invasion seien aus der Ferne nur schwer zu ertragen gewesen. „Es waren Bilder und Beschreibungen von Gewalttaten, die man sich nur schwer vorstellen kann. Wenn jemand uns anrief, hörten wir die Sirenen im Hintergrund. Dann musste meine Großmutter in den Keller, um sich in Sicherheit zu bringen.“

Giuseppe hat miterlebt, wie Familienangehörige Tag und Nacht vom Kriegsgeschehen erzählten. „Es war nicht mehr irgendwo ein Krieg auf der Welt, sondern es waren mein Land, meine Familie und Freunde. Ihre Geschichten waren andere als die, von denen man uns im Fernsehen erzählt. Zum Glück liegt unser Dorf an der rumänischen Grenze. Es gibt dort zwar oft Bombenalarm, aber die Stadt wurde nicht angegriffen. Trotzdem berührt es mich, zu wissen, dass es dort Freunde aus meiner Kindheit gibt, die ich nie mehr wiedersehen werde.“

Dass er den Krieg aus der Entfernung miterlebt, verdankt er dem Mut seiner Eltern. „Sie haben mit 19 in der Ukraine geheiratet und wollten in Italien ein besseres Leben beginnen. Allerdings erinnere ich mich an Tage, an denen wir dort nur eine Zitrone, eine Zwiebel und Wasser im Kühlschrank hatten.“ So folgte die junge Familie, die sich zwischenzeitlich vergrößert hatte, der Einladung einer Tante, die im französischen Grand-Est lebte. Das Paar fand schnell eine Arbeit in Luxemburg, doch die Kinder litten unter der Distanz, die ihre Eltern täglich zurücklegten. Diese entschieden, kurz danach zum Wohle der Kinder noch einmal eine Landesgrenze zu überqueren. Erst zur Miete in Differdingen, später dann die eigenen vier Wände in Grevenmacher. 

Es ist ein Kontrastprogramm zum Leben, das seine Großeltern in der Nähe von Chernivtsi führen. Die Atmosphäre, die Giuseppe früher in dem kleinen Dorf zu spüren bekam, prägte seine Kindheit: „Jedes Jahr verbrachten wir dort unseren Urlaub. Meine Großeltern besitzen ein paar Kühe, Schweine und Hühner. Sie leben sehr ländlich und haben nichts mit Internet oder Wi-Fi am Hut. Wenn wir zu Besuch waren, genoss ich diese Kultur, die Traditionen und das Essen besonders: An Weihnachten wurde tagsüber nichts gegessen, sondern erst, wenn die erste Sternschnuppe am Himmel zu sehen war, begann ein großes Familienfest.“

Seit mehreren Monaten merkt Giuseppe, dass sich in seiner zweiten Heimat eine gewisse Normalität, gar Routine, in Bezug auf den Krieg eingestellt hat. Nicht mehr viel erinnert heute an die zahlreichen Spendenaufrufe von vor zwei Jahren: „Wir bekamen damals wirklich sehr viele Nachrichten von Leuten, die uns Hilfe angeboten haben. Heute hat man eher das Gefühl, dass der Krieg zur Gewohnheit geworden ist. Mich trifft es hart, wenn man mir schreibt, dass die Ukraine sich doch einfach ergeben sollte. Zugleich ist ein Freund meines Vaters ein Kämpfer an vorderster Front.“

Die Yatsko-Familie kann nachempfinden, wie schwer Neuanfänge sein können. Weshalb sie sich vor zwei Jahren dazu entschlossen hat, mehreren ukrainischen Flüchtlingen zu helfen – etwa bei der Anmeldung. Auch auf dem Arbeitsmarkt wurde Vater Ruslan tätig, als er seinen eigenen Chef überredete, eine ukrainische Mannschaft bei der Baufirma zu gründen. Zudem hat er gemeinsam mit Anwalt Sergei Sviatko und dem Luxemburger Jean Diederich ein großes Projekt ins Leben gerufen, das den ukrainischen Ankömmlingen etwas Heimatgefühl ermöglichen soll: Eine eigene Kirche für die ukrainische Glaubensgemeinschaft wurde 2023 eröffnet.

Giuseppe hat sich damals nämlich nicht gleich zurechtgefunden. Als er 13-jährig in Frankreich ankam, fühlte er sich auf dem Schulhof bedroht. „Ich war ständig in Raufereien verwickelt, denn ich hatte das Gefühl, die andern würden sich über mich lustig machen. Dabei verstand ich nicht einmal, was sie sagten.“ Der Vater, selbst Karate-Champion in Chernivtsi, meldete beide Söhne im nächsten Judo-Verein an. Der Sport wirkte auch bei der nächsten Station in Luxemburg als Integrationsfaktor. Heute ist Nicola am „Sportlycée“ eingeschrieben, kämpft für die Judo-Nationalmannschaft und träumt von einer großen Karriere. Giuseppe hat die sportlichen Ziele wegen des Berufs hinten angestellt, genießt dennoch die etlichen Stunden auf der Matte. „Ich habe einen Luxemburger Pass, ich lebe in einem Land, das uns sehr viele Chancen gibt. Da ist es das Minimum, sich zu integrieren – und denen zu helfen, die jetzt das erleben, was wir schon durchgemacht haben.“

Ukrainer in Luxemburg nach Zahlen

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat mehr als acht Millionen in ganz Europa und mehr als fünf Millionen Menschen, die innerhalb des angegriffenen Landes flüchteten, genannt. Polen und Deutschland nahmen die meisten Flüchtlinge auf. Diese flohen mit Bussen und Autos, per Bahn und zu Fuß.
Im ersten Jahr nach dem Krieg hat Luxemburg mehr als 5.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen, die einen Antrag auf temporären Schutz stellten – davon waren 1.716 Minderjährige. Von den 5.004 Anträgen, zu denen das „Office national de l’accueil“ (ONA) eine Entscheidung zu diesem Zeitpunkt getroffen hatte, fielen 4.915 positiv aus, häufig handelte es sich dabei um Personen, die bereits eine Aufenthaltsgenehmigung in einem anderen Land erhalten hatten. Übrigens waren 62 Prozent der ins Großherzogtum geflüchteten Ukrainer Frauen, 34 Prozent der Flüchtlinge minderjährig.
Nach einem Jahr hielten sich hierzulande noch etwa 3.700 Ukrainer auf. Die EU-Innenminister hatten sich am 3. März 2022 darauf geeinigt, die Flüchtlinge aus der Ukraine schnell und unbürokratisch aufzunehmen: Die betroffenen Personen erhielten ein Aufenthaltsrecht für ein Jahr mit der Möglichkeit auf Verlängerung sowie ein Anrecht auf Sozialleistungen und eine Arbeitserlaubnis – ein Asylantrag war nicht nötig. Die Aufenthaltserlaubnis der ukrainischen Geflüchteten ist inzwischen bis zum 4. März 2025 verlängert worden. Die Betroffenen müssen, wie das Innenministerium kürzlich bekannt gab, bis 3. März 2024 ihre Aufenthaltserlaubnis erneuern. Sie erhalten nicht nur das Recht auf Unterstützung vom Luxemburger Staat, sondern das Recht auf Arbeit.

jean-pierre.goelff
25. Februar 2024 - 14.31

Mir graust,wenn ich manche dieser Kommentare lese!

luxmann
25. Februar 2024 - 12.27

@ grober
Wen soll ich denn fragen?
Die raedelsfuehrer des putsches die geld von der US regierung erhielten und das wahrscheinlich abstreiten werden.
Oder ein paar mitlaeufer die fuer lau mitmachten wie das bei jedem "aufstand" der fall ist.

Grober J-P.
25. Februar 2024 - 9.33

@ luxmann /
Nachweise, bitte!
Es gibt etliche Ukrainer die Sie fragen können.

fraulein smilla
24. Februar 2024 - 16.41

luxmann
Sie meinen also die damalige US Botschafterin haette auf dem Maidan nicht nur Stullen an die Demonstranten verteilt .

luxmann
24. Februar 2024 - 10.04

Wiktor Janukowitsch war 2014 gewaehlter praesident der Ukraine und wurde durch den maidan putsch illegal gestuerzt.
Ein putsch der nachweislich von Washington finanziert und unterstuetzt wurde...und der ausgangspunkt des aktuellen unheils ist.