Nur im Schritttempo geht es auf der brechend vollen „Beogradska Ulica“ im Herzen der serbischen Hauptstadt voran. Doch weder die Enge noch der Nieselregen kann die Stimmung der Massen trüben. „Pumpaj, pumpaj – mach weiter, mach weiter!“, skandiert die Menge ausgelassen den Schlachtruf der gegen die Vetternwirtschaft streitenden Studenten. „Korruption tötet“, erinnert an einer Bushaltestelle ein Plakat an die Katastrophe, die Serbien in seinen Grundfesten erschüttert hat. Seit am 1. November 15 Menschen unter den tonnenschweren Trümmern des eingestürzten Vordaches des neu renovierten Bahnhofs von Novi Sad ihr Leben verloren, scheint nichts mehr, wie es war: Die Protestwelle gegen die Korruption setzt den allgewaltigen Staatschef Aleksandar Vucic zunehmend unter Druck.
„Wir wollen einen Staat mit funktionierenden Institutionen, freien Medien und einer unabhängigen Justiz“, erläutert eine junge Frau in neongelber Ordnerjacke am „Studentski Trg“ die Anliegen der Studenten: „Alle Verantwortlichen für die Katastrophe von Novi Sad müssen zur Verantwortung gezogen werden.“ Goldbraun brutzeln vor der Naturwissenschaftlichen Fakultät die Gratiswürste im Bratenfett. Er wolle einfach nur den Studenten helfen, erklärt ein Familienvater aus Novi Sad seinen freiwilligen Grilleinsatz: „Unsere erste Revolution nach dem Sturz von Slobodan Milosevic war leider nicht so recht geglückt. Hoffentlich klappt es dieses Mal besser.“
Unablässig dröhnen Vuvuzelas und Trillerpfeifen, während die Demonstranten in langen Kolonnen in die Innenstadt ziehen: Von über 100.000 Demonstranten soll später die Polizei sprechen, von mindestens einer halben Million Menschen unabhängige Analysten. Gemeinsam mit Arbeitskollegen ist die Anthropologin Miroslava Lukic-Krstanovic unterwegs. Nein, einen „D-Day“ oder den von vielen ersehnten Tyrannensturz erwarte sie nicht, sagt sie lächelnd. Doch den Studenten sei es mit den Sternmärschen quer durch das ganze Land geglückt, selbst die Bevölkerung in der Provinz wachzurütteln: „Den Studenten ist es gelungen, das Wertesystem und die Gesellschaft zu ändern.“
Vucic hält die Zügel noch immer fest in der Hand
Jubel brandet vor dem Hotel Moskau den Bauern aus dem Banat entgegen, die mit ihren Traktoren in Richtung Parlament tuckern. „Am dunkelsten ist es vor der Erleuchtung“, verkündet das Plakat eines Demonstranten. „Wir wissen, dass er weiß, dass wir wissen, dass er erledigt ist“, so die auf Serbiens autoritären Vormann gemünzte Botschaft auf dem T-Shirt eines Studenten: Tatsächlich tun sich im Machtbeton des lange unangefochtenen Präsidenten Vucic unter dem Druck der monatelangen Dauerproteste und Streiks immer mehr Risse auf.
Mit ungewohnten Pfeifkonzerten und Eierwürfen unzufriedener Landsleute sehen sich SNS-Würdenträger mittlerweile selbst in kleineren Landgemeinden konfrontiert. Auch in den Provinzhochburgen der SNS, in denen die Partei bei Wahlen auf über 70 Prozent zu kommen pflegt, wurden die in Sternmärschen in die Hauptstadt ziehenden Studenten in der letzten Woche von Anwohnern wie Befreier empfangen – und gefeiert. „Die Hochburgen der SNS fallen, die Macht von Vucic wird in den Grundfesten erschüttert“, titelt euphorisch und hoffnungsfroh das regierungskritische Webportal „nova.rs“.
Eine Person kann nicht über allen und über den Gesetzen stehen. Lasst uns gemeinsam Serbien aufwecken!
Doch auch stark frequentierte Großdemonstrationen sind keine Wahlen. Und der zunehmend nervös wirkende Vucic hält die Zügel in seiner zentralistisch geführten Partei noch immer fest in der Hand. Aber selbst in seiner straff geführten Regierungskoalition beginnt es zu rumoren. Das von Vucic initiierte „Protestcamp“ von angeblich lernwilligen Studenten vor den Toren des Präsidentenpalasts wirke wie eine „Kulisse aus einer Realityshow“, ätzt der frühere Europa- und Wissenschaftsminister Branko Ruzic, ein einflussreiches Vorstandsmitglied der mitregierenden Sozialisten (SPS). Angesichts der „zivilen Art“, wie die Studenten ihre Proteste organisierten und begründeten, sehe er keinerlei Anlass, unnötig Spannungen mit dem „Gerede“ über angebliche Gewaltexzesse der Demonstranten zu schüren: „Man kann keinen Brand mit dem Vergießen von Benzin löschen.“
Der Geruch von ausgelaufenem Benzin hängt über den altersschwachen Traktoren: Wie eine merkwürdige Wagenburg umringen die mit Tiefladern in die Stadt geschafften Vehikel das von der Polizei geschützte Zeltlager der zu Studenten deklarierten Regierungsanhänger, Kriegsveteranen, jugendlichen Kapuzenträger und breitschultrigen Auftragsschlägern. Immer wieder warnen die Studentenorganisatoren die Demonstranten vor Provokateuren und fordern sie auf, dem Regierungszeltlager fernzubleiben. Nur dank der Traktoren sei ein „Blutvergießen“ bei der Demonstration „voller Wut, Hass und negativer Energie“ gegenüber Serbiens Führung „verhindert“ worden, mimt hingegen Präsident Vucic am Abend wieder seine Lieblingsrolle als Feuerwehrmann für selbst geschürte Brände.
Endlich hat sich die Dämmerung über den Slavija-Platz gesenkt. Zehntausende von in die Höhe gereckten Telefonen sorgen in der Dunkelheit für ein Lichtermeer. „Schaut, wie viele wir sind“, verabschiedet auf der Bühne am Slavija-Platz eine Studentin die Demonstranten: „Eine Person kann nicht über allen und über den Gesetzen stehen. Lasst uns gemeinsam Serbien aufwecken!“
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