SerieHistorisches und architektonisches Esch (25): Brill- und Burenstraße (2)

Serie / Historisches und architektonisches Esch (25): Brill- und Burenstraße (2)
Die Burenstraße heute mit den Häusern aus der Lefèvre-Zeit und dem Café San Siro, Nachfolger des italienischen Café Verona, an der Ecke mit dem Prinzenring Foto: © Christof Weber, 2015

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Die lokale Geschäftswelt in der Brillstraße hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrmals neu erfunden. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es vorwiegend Läden, die die Einwohner mit Waren des alltäglichen Bedarfs versorgten – Bäcker, Metzger, Kolonial- und Kurzwarenhändler, Frisöre, Schuster, Schanklokale. 

Die Ladenbetreiber waren sowohl Italiener als auch Luxemburger oder Deutsche. In der Zwischenkriegszeit wurde diese Infrastruktur teilweise durch Geschäfte ersetzt, die Textilien oder Lederwaren anboten. Diese wurden vielfach von Menschen jüdischen Glaubens betrieben, die sich vor der Verfolgung in Zentral- und Osteuropa durch Auswanderung in Sicherheit gebracht hatten (z.B. Isi Finkelstein, Nathan Godin, Aron Lukmanski). Ihre Angebote, die besonders auf das Preis-Leistungs-Verhältnis setzten, zogen Kundschaft aus ganz Esch an. Viele dieser Geschäftsleute wurden im Zweiten Weltkrieg Opfer der Shoah. Wieder aufgenommene Geschäfte wurden zudem ab den 1960er-Jahren vielfach in die Alzettestraße verlegt, denn dort boomte der Handel.

Es gelang der Brillstraße jedoch, die Krise zu überwinden und eine neue Tradition aufzubauen. In den 1970er-Jahren entdeckten viele Luxemburger Italien als Ferienland und wollten die dort entdeckte Gastronomie auch in Luxemburg genießen. Als Antwort auf diese Nachfrage entstanden in der Brillstraße Restaurants und Pizzerien. Schon bald galt sie in Luxemburg und Umgebung als Tempel italienischen Schlemmens. In dieser Zeit entwickelte sich wohl auch der Mythos des italienischen Erinnerungsortes.

Mit der Diversifizierung der Ferienziele ließ das Interesse an der Gastronomie des Brill nach. Viele Lokale stellten den Betrieb ein oder fanden keine Nachfolger. Trotz mehrfacher Wiederbelebungsversuche durch die Stadtverwaltung – Einführung und mehrfache Umgestaltung einer Fußgängerzone – bleibt die Brillstraße ein urbanistisches Sorgenkind. Wahrscheinlich sind hier tief greifende soziologische und wirtschaftliche Entwicklungen am Werk, denen man auch mit einer voluntaristischen Politik nicht entgegensteuern kann. Möglicherweise wird sich der Ort im Zeichen allgemeiner Wohnungsnot in Richtung Wohnstraße entwickeln. Die Tatsache, dass Wohnungen über den Läden, die bislang leer standen, wieder genutzt werden, deutet darauf hin. So könnten sich auch genügend neue Anwohner ansiedeln, die dem Handel mit Waren des täglichen Bedarfs wieder eine Chance gäben. Kindern könnte die Fußgängerzone als Spielplatz dienen.

Die Entwicklung der Burenstraße (seit 2014 Nelson-Mandela-Straße) steht in engem Zusammenhang mit der Nachbarstraße. Eine Vielzahl der ungeraden Hausnummern entsprach zunächst Hintergebäuden der Lefèvrestraße. Die etwas sonderbar anmutende Benennung Burenstraße geht wohl auf die Sympathien zurück, die die Sache der Buren einst vielerorts in Europa genoss. Die Buren waren eine kleine niederländisch-stämmige Kolonistengruppe, die am Kap gegen das britische Imperium kämpfte (1880-1881 und 1899-1902). Die späteren Entwicklungen in dieser Region und besonders die Politik der Apartheid gegenüber der schwarzen Mehrheitsbevölkerung machten die Beibehaltung jenes Straßennamens in der heutigen Zeit unhaltbar. So wurde sie 2014 Nelson Mandela, dem Kämpfer gegen die Apartheid und erstem aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Präsidenten Südafrikas, umgewidmet.

Mag die italienische Identität der Brillstraße diskussionswürdig sein, so darf man eine solche für die Burenstraße durchaus annehmen. In der Burenstraße betrieb die Mission ab den 1960er-Jahren eine italienische Kinderkrippe/Vorschule („asilo“ genannt, vorher um die Ecke am Prinzenring 5), direkt neben dem Sitz des lokalen Ablegers der italienischen kommunistischen Tageszeitung Unità.

Auch heute noch sind die Cafés Italia (Riganelli) und San Siro am Eingang der Straße Hotspots, wenn Spiele der Squadra Azzurra oder der italienischen Topteams übertragen werden. War die Brillstraße vom Handel geprägt, so diente die Burenstraße eher dem Wohnen. Hier besaßen Kaufleute wie der Wein- und Lebensmittelhändler Mosé Olivo oder der Konditor Theodor Scheidweiler (aus der Luxemburger Straße) mehrere Gebäude. In den beiden dreistöckigen Häusern nahe der Bahnlinie fanden sich bei den Volkszählungen vor dem Ersten Weltkrieg bis zu hundert Schlafgänger pro Haus. Noch 1933 verfügte das Haus Nummer 27 laut dem Wortlaut des Versteigerungsplakats über 17 Zimmer vom „Typus Familienpension“.

Auf den Vorschlag des Stadtarchitekten Paul Flesch hin ließ die Gemeinde die Brillstraße in den Jahren 1903 bis1905 über die Industriestraße (heutige rue Zénon Bernard) hinweg bis zur Kanalstraße verlängern. Vor dieser Erweiterung mussten die Schülerinnen und Schüler vom Deich einen Umweg über Al Esch einlegen, um von dort aus über die Alzettestraße die Brillschule zu erreichen. Rückblickend erkennt man, dass Fleschs Idee ein erster Schritt in Richtung der Entstehung eines zentralen Platzes im Brillviertel war.