20. Oktober 2025 - 6.53 Uhr
Forum von Dr. Nora SchleichHermeneutische Ungerechtigkeit als systemische Diskriminierung

Wenn das Debakel um das Einschreiben der Freiheit auf Schwangerschaftsabbruch in die Verfassung ein Gutes hat, dann, dass die Pluralität der Meinungen wieder sichtbar wird. An sich ein Gewinn, denn, so sagt es schon Jürgen Habermas (Philosoph, Soziologe und Demokratietheoretiker), erst in der deliberativen Politik, also in der Politik, in der das beste Argument als Maßstab gilt, kann ein vernünftiger Diskurs und freie Kommunikation untereinander stattfinden. Meinungen und Argumente, Positionen und Theorien werden gehört, geprüft und es wird gemeinsam geschlussfolgert, sodass Kommunikation und Vernunft gewinnen können.
So das Ideal, so die romantische Idee des Jürgen Habermas. Um sich diesem Ideal auch nur irgendwie annähern zu können, braucht es natürlich solide Grundbedingungen, und eine davon ist, dass die Gesprächspartner auf Augenhöhe miteinander diskutieren können. Ich kann nur mit jemandem so diskutieren, wenn ich diesen Menschen für „klar“ halte, vernünftig, könnte man sagen – ihn respektiere, ihm zuhören, ihn für voll nehme.
Das ist im demokratischen Diskurs eine absolute Notwendigkeit.
Das alte Narrativ der irrationalen Frau
Als ich den Beitrag von Dr. Schockmel las, fiel mir einiges auf, zu dem ich mich positionieren könnte (über Schwangerschaftsabbruch oder Abtreibung kann/muss man sehr komplex diskutieren, das ist seit Jahren klar), aber vorwiegend schockierte mich, wie einfach Dr. Schockmel den Frauen ganz klar das Vernünftig-Sein abspricht. Mit einem Satz nach dem anderen. (Zudem schreibt er von „dem“ Feminismus. Was ist denn „der Feminismus“? Gibt es den einen Feminismus überhaupt? – Aber darum geht es nicht.)
Es geht um Sätze wie: „Die allerwenigsten Frauen sind sich der subversiven, gesellschaftlich destruktiven Kraft des hiesigen Feminismus bewusst.“
Dr. Schockmel beschwört mit dieser Aussage nicht nur eine ominöse destruktive Kraft „des“ zerstörerischen (?) Feminismus hervor (eine Prämisse, die ohnehin erst einmal objektiv zu diskutieren wäre). Er bedient hiermit auch das alteingebrannte und abwertende Narrativ, dass Frauen nicht als Wissende angesehen werden können. Sie haben halt nicht so viel Ahnung von den Sachen, sie wissen ja nicht, um was es wirklich geht. Sie brauchen sogar jemanden, der ihnen sagt, dass sie sich dessen nicht bewusst sind. Das Bild der hysterischen, irrational reagierenden, unmündigen Frau ist eines, das scheinbar noch immer sehr wirkmächtig ist.
Wenn nun einem Menschen Glaubhaftigkeit, Vernunft, Bewusstsein oder Zeugnisfähigkeit abgesprochen wird, ist das ein Fall von hermeneutischer Ungerechtigkeit, die für zahlreiche Diskriminierungen in unserer Gesellschaft verantwortlich ist. Hermeneutisch meint die Interpretation, die Auslegung von etwas. Die hermeneutische Ungerechtigkeit meint in diesem Fall unter anderem die Unterstellung, dass Frauen nicht fähig sind, Situationen korrekt zu interpretieren. Ich erkläre mich.
Indem hier Frauen, die sich für Feminismus einsetzen, als Unbewusste und hassende (also gefühlsgetriebene), intolerante Wesen dargestellt werden (stand so im Beitrag), stellt man den Kontrast zum Bild des rationalen, gebildeten, männlichen Wissenden natürlich ganz drastisch her. Den Frauen wird so Wissen abgesprochen, Verständnis der eigentlichen und eigenen Situation, also Wesen, die nicht begreifen können. Wie sollte man ihren Argumenten also überhaupt Glauben schenken können?
Die Glaubwürdigkeit der Position der Frauen als Wissende wird so bewusst (?) geschmälert, die Frau wird zu Unrecht abgewertet.
Ohne Dialog keine Lösung

Dies verschließt von vornherein die Möglichkeit zum vernunftbasierten Dialog, zum konstruktiven Austausch bezüglich eines gesellschaftlichen Problems, das ohne Kommunikation nicht zu lösen ist. Entweder könnte man Dr. Schockmel hier einen groben logischen Fehler unterstellen (denn wie will man ein Problem des Miteinanders lösen, ohne das Miteinander einzubegreifen?), dies klingt aber alles andere als vernünftig, und das wollen wir ja nicht annehmen. Oder aber man müsste sagen, dass Dr. Schockmel sich beim Bedienen dieser alten Narrative nicht bewusst war, welche Konsequenzen solche Aussagen haben, besonders in Bezug auf Achtung der Würde des Gegenübers. In Bezug darauf, dass alle Menschen als gleich anzusehen sind, als freie Wesen, mit freien Meinungen, Gedanken, mit Vernunft. Dies kann man ja aber aus oben besagten Gründen nicht pauschal von vornherein annehmen. Sollte dies jedoch bei einem gewählten Politiker der Fall sein, dann stellen sich noch weitere, drängende Fragen, die auf jeden Fall in der Gesellschaft zu diskutieren wären. Denn dann wäre es nicht „der“ Feminismus, der systemisch diskriminiert (wie im Beitrag suggeriert), sondern eine noch immer nicht gleichberechtigte Gesellschaft, scheinbar mitsamt einiger ihrer delegierten Vertreter, die im „Anderen“ das Minderwertige sieht, das nicht dazu gehören darf.
Eng excellent Analyse. Merci.