„It’s the economy, stupid!“ Es war dieser berühmt gewordene und inzwischen unsäglich oft zitierte Slogan des Wahlkampfstrategen James Carville, mit dem Bill Clinton 1992 die US-Präsidentschaftswahl gewann – und der besagt, dass Wirtschaftsfragen Wahlen entscheiden. Nicht etwa marktfundamentalistische Apologeten wie Margaret Thatcher oder Ronald Reagan, heute vielfach als „neoliberal“ bezeichnet, setzten fortan auf die sogenannte Leistungsgesellschaft, anstatt die Macht der Märkte einzuhegen, sondern gemäßigte linke Politiker wie Clinton, Tony Blair, Gerhard Schröder und schließlich Barack Obama. Der 72-jährige Michael J. Sandel, Harvard-Professor für Regierungslehre, sieht darin die Ursache für die gestiegene Unzufriedenheit.
Der knapp zwei Jahrzehnte jüngere, 1971 geborene Piketty wurde, nachdem bereits im Vorjahr das französische Original erschienen war, 2014 mit der englischen und deutschen Übersetzung seines Buches „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ schlagartig berühmt. Bereits darin behandelt er grundlegende Fragen der Einkommens- und Vermögensungleichheit. Diese sei kein zufälliges, sondern ein notwendiges Merkmal des Kapitalismus. Die übermäßige Ungleichheit könne nur durch Reformen und Einschränkungen des Kapitalismus reduziert werden, der, je weniger er reguliert werde, umso stärker zur Vermögenskonzentration tendiere und damit die Demokratie gefährde.
Sandel wiederum wurde Anfang der 80er-Jahre bekannt, als er mit „Liberalism and the Limits of Justice“ eine kritische Antwort auf John Rawls’ Klassiker „Theorie der Gerechtigkeit“ vorlegte, das ihm zu abgehoben von den realen sozialen Verhältnissen erschien. Damit wurde er neben dem Kanadier Charles Taylor, bei dem er einst in Oxford promovierte, und dem Princeton-Philosophen Michael Walzer zu einem Wegbereiter der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus. „Das Unbehagen in der Demokratie“, 1996 im Original erschienen, „Was man für Geld nicht kaufen kann – die moralischen Grenzen des Marktes“ (2012) und „Gerechtigkeit – wie wir das Richtige tun“ (2013) gehören zu den wichtigsten Werken der politischen Philosophie der vergangenen Jahrzehnte. Seine auf Youtube verbreiteten Vorlesungen machten Sandel zu einem Popstar unter den Philosophen.
„Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert“
Die Fragen nach „Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert“, so der Untertitel der verschriftlichten Form des Gesprächs von Piketty und Sandel, bilden den roten Faden des Buches. Sandel weist darauf hin, dass in Europa die reichsten zehn Prozent mehr als ein Drittel allen Einkommens und mehr als die Hälfte allen Vermögens auf sich vereinen. Und in den USA seien die Ungleichheiten noch schlimmer. Dabei war die Ungleichheit vor hundert Jahren wesentlich ausgeprägter, weiß Piketty. Sie konnte jedoch bekämpft werden, indem etwa die reichsten US-Amerikaner mit einem Spitzensteuersatz von bis zu 90 Prozent zum Sozialstaat beitrugen, erklärt er. Piketty zeigt sich zu Beginn des Gesprächs optimistisch, denn so groß die Ungleichheit auf der ganzen Welt, in Europa wie den USA, in Indien wie Brasilien, heute auch sei: „Langfristig hat es eine Tendenz zu mehr Gleichheit gegeben“, betont der Wirtschaftswissenschaftler und fährt fort: „Woraus entspringt diese Tendenz? Sie entspringt (…) der sozialen Mobilisierung und einer starken, unüberhörbaren politischen Forderung nach Gleichheit der Rechte beim Zugang zu dem, was wir Grundgüter nennen. Dazu zählen Bildung, Gesundheit, Wahlrecht und, ganz allgemein, möglichst umfassende Teilhabe an verschiedenen Formen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, bürgerlichen und politischen Lebens.“ Diese Tendenz setzte gegen Ende des 18. Jahrhunderts unter anderem mit der Französischen Revolution, der Abschaffung der Sklaverei, dem Aufkommen der Arbeiterbewegungen, dem allgemeinen Wahlrecht für Männer und schließlich für Frauen fort. Und sie hielt mit dem Aufbau der sozialen Sicherungssysteme, der progressiven Steuer und der Dekolonisierung an.

„Wir haben uns langfristig auf mehr Gleichheit zubewegt“, fasst Piketty diese Entwicklung zusammen. Vor hundert Jahren sei die Ungleichheit schlimmer gewesen, und vor 200 Jahren noch schlimmer. Das Einkommensgefälle sei also viel geringer geworden. Der Fortschritt habe stets große politische Kämpfe und soziale Mobilisierungen erfordert. Allerdings meldet der Franzose zwei Vorbehalte an: Erstens sind die Güter, die heute als grundlegend betrachtet werden, heute nicht die gleichen wie vor hundert Jahren, zweitens wurde der Wohlstand des Nordens durch globale Arbeitsteilung erwirtschaftet, durch das Nord-Süd-Gefälle und nicht zuletzt durch die „manchmal höchst brutale Ausbeutung natürlicher, also auch menschlicher Ressourcen, die zudem mit dem Extrapreis jener Bedrohung der planetarischen Nachhaltigkeit bezahlt wird, die uns immer schärfer vor Augen tritt“.
Wir haben uns langfristig auf mehr Gleichheit zubewegt
Die beiden Starintellektuellen machen drei Aspekte von Gleichheit respektive Ungleichheit aus: einen ökonomischen, einen politischen und einen, bei dem es um soziale Beziehungen, um Würde, Status und Respekt gehen. Letzteren betont vor allem Sandel. Und sie definieren drei Probleme, die aus monetärer Ungleichheit resultieren: Arme Menschen können sich viel weniger leisten, haben geringeren politischen Einfluss und geraten in Abhängigkeit von reichen Menschen. Doch wie ist dem beizukommen? Piketty setzt auf eine klassische Umverteilung und tritt für eine progressive Besteuerung ein, während Sandel dafür eintritt, etwa den Bildungs- und den Gesundheitssektor ganz dem Markt zu entziehen und deren Dienstleistungen allen Bürgern in gleicher Weise zur Verfügung zu stellen. Er spricht von „Dekommodifizierung“ oder „Entmarktung“. In seiner Heimat USA würde dies als kommunistisch verteufelt werden. Eliteuniversitäten wie Harvard müssten mehr ärmere Studenten aufnehmen. Momentan hat Harvard andere Schwierigkeiten.

Bei der Lektüre des Buches werden immer wieder die unterschiedlichen akademischen Milieus deutlich, in denen die beiden Wissenschaftler sozialisiert worden sind. So betont Sandel etwa den Begriff der „self-governance“. Dies wird nicht zuletzt deutlich, als Sandel über Identität spricht und darauf hinweist, dass die weißen Industriearbeiter sich rechten Bewegungen anschließen, weil sie von den Gebildeteren mit Verachtung gestraft werden – und nicht etwa nur, weil sie ihren Job verloren haben. Ihnen geht es nicht nur um Geld. Schließlich sei der Erfolg rechter Parteien nicht nur das Resultat ökonomischer Ungleichheit, sondern auch eines Mangels an Anerkennung und Respekt durch eine sich abkoppelnde Elite.
Damit scheint Piketty nicht ganz einverstanden zu sein. Er kritisiert gerade jene, die ökonomische Macht gegen kulturelle Teilhabe eintauschen, einerseits Minderheitenrechte stärken und andererseits den Niedriglohnsektor ausbauen. Ihm ist eine rein ökonomische Betrachtung lieber. Er will an internationalen Initiativen für mehr Gleichheit festhalten, etwa durch eine UN-Steuerkonvention, globale Mindeststeuersätze für Unternehmen, zudem plädiert er für höhere progressive Einkommenssteuern, höhere Erbschaftssteuern und einen Ausbau des Sozialstaates und tritt für einen „partizipativen demokratischen Sozialismus“ ein, indem etwa den Arbeitnehmern in den Unternehmen mehr Mitbestimmungsrechte zugestanden werden. Nicht nur in dieser Hinsicht ist Piketty ein Verfechter der klassischen Sozialdemokratie.
Viel Einigkeit und wenig Streit
Auch wenn dem Buch zumindest eine kurze Einleitung gutgetan hätte, die beiden sich in vielerlei Hinsicht einig sind und mitunter das Dialoghafte gegenüber längeren Ausführungen etwas zurückweicht, bringt es die Positionen von Piketty und Sandel gut auf den Punkt, die einen guten Ein- und Vorausblick auf die „Kämpfe der Zukunft“, aber auch der Gegenwart bieten: von den moralischen Grenzen des Marktes bis hin zu Themen wie Globalisierung, Meritokratie, Steuerfragen, Grenzen und Migration sowie etwa zur Frage nach der Zukunft der Linken und Fragen, ob zum Beispiel Lotterien bei der Hochschulzulassung oder bei der Bestellung von Abgeordneten eine Rolle spielen sollen. Ein Werk, das zur Weiterbeschäftigung mit den beiden Meisterdenkern einlädt.
Thomas Piketty, Michael J. Sandel: Die Kämpfe der Zukunft. Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. C.H. Beck Verlag, München 2025, 158 Seiten, 20 Euro.
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