Tageblatt: Markiert die kürzliche Münchener Sicherheitskonferenz das Ende des Westens?
Velina Tchakarova: Die Münchener Sicherheitskonferenz 2025 hat zwar nicht das Ende des Westens als kollektiven Akteur besiegelt, aber die tiefen transatlantischen Konfliktlinien in zentralen Fragen der demokratischen Ordnung, der Werte und Normen innerhalb westlicher Gesellschaften sowie der Sicherheits-, Verteidigungs- und Geopolitik nach außen schonungslos offengelegt. Besonders deutlich wurde, dass die USA ihren strategischen Fokus endgültig in den Indopazifik verlagern und die Hauptverantwortung für die Verteidigung Europas zunehmend den europäischen Staaten selbst überlassen wollen. Gleichzeitig offenbarte die Konferenz die alarmierende Planlosigkeit der europäischen Mächte.
Die Aktienbörsen reagieren jedoch mit Vorfreude auf eine erhoffte Entspannung im Ukraine-Krieg. Welche geopolitische Bedeutung hätte eine Vereinbarung, die der Ukraine unter US-Druck territoriale Zugeständnisse an Putin abverlangt?
Das hätte weitreichende geopolitische Konsequenzen. Kurzfristig könnten die Finanzmärkte einen möglichen Waffenstillstand positiv bewerten – vor allem aufgrund der erhofften Stabilisierung der Rohstoffpreise und der wirtschaftlichen Entlastung. Doch geopolitisch würde eine solche Vereinbarung wenig zur nachhaltigen Befriedung des Krieges beitragen. Russland verfolgt weiterhin die vollständige Unterwerfung der Ukraine, und ein Waffenstillstand war stets Teil seiner strategischen Agenda.
Europa marginalisiert
Ist ein „Einfrieren des Konflikts“ und damit ein Ende des Massensterbens keine Option?
Ein Waffenstillstand würde primär Russland eine dringend benötigte Atempause verschaffen, insbesondere durch eine mögliche Lockerung der Sanktionen. Gleichzeitig würde er das Risiko eines „eingefrorenen Konflikts“ erhöhen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Jahren 2027-2028 erneut eskalieren könnte – dann allerdings unter erheblich ungünstigeren Bedingungen für die Ukraine und Europa. Die Welt würde sich zunehmend entlang der Linien eines Kalten Krieges 2.0 zwischen den USA auf der einen und China sowie Russland auf der anderen Seite formieren – mit Europa als marginalem Akteur ohne machtpolitische Gestaltungsmöglichkeit. Diese neue geopolitische Zweiteilung hätte weitreichende Konsequenzen für kleinere Staaten, deren Souveränität und Sicherheit nicht mehr garantiert werden könnte – insbesondere für geopolitisch sensible Regionen wie Taiwan, Panama oder Grönland.
Versäumnis der Eliten
Wie lange noch können sich europäische Regierungen eine uneingeschränkte Unterstützung der Ukraine leisten, ohne Gefahr zu laufen, von weniger Ukraine-freundlichen Parteien abgelöst zu werden?
Die wachsende Unterstützung für Kräfte mit äquidistanter oder gar offen russlandfreundlicher Haltung ist längst ein europaweiter Trend. Angesichts wirtschaftlicher Belastungen, steigender Lebenshaltungskosten und wachsender Kriegsmüdigkeit stehen viele Regierungen vor einem Dilemma: Einerseits erfordert die sicherheitspolitische Stabilität Europas eine fortgesetzte Unterstützung der Ukraine, andererseits wächst der innenpolitische Druck durch Parteien, die eine Neuausrichtung der Ukraine-Politik fordern – sei es aus pragmatischen wirtschaftlichen Erwägungen oder ideologischer Nähe zu Russland. Sollte sich das Narrativ durchsetzen, dass die Fortführung der militärischen und finanziellen Unterstützung der Ukraine zu Lasten nationaler Interessen geht, könnte dies zu einem politischen Umbruch führen. Die europäischen politischen Eliten haben es versäumt, ihren Gesellschaften klar zu vermitteln, dass Russland am 24. Februar 2022 nicht nur einen offenen Krieg gegen die Ukraine, sondern gleichzeitig auch einen nicht-kinetischen Krieg gegen Europa und die europäische Sicherheitsordnung begonnen hat.
Die geopolitische Dynamik zeigt, dass an der Ostflanke der NATO ein neuer Eiserner Vorhang entsteht
Österreich isoliert
Österreich besinnt sich nun noch stärker auf die – von der FPÖ sogar neutralistisch interpretierte – Neutralität.
Selbst die Schweiz, die traditionell eine strikte Neutralität verfolgt, strebt eine engere Kooperation mit der NATO an. Österreich hingegen bleibt in sicherheitspolitischen Fragen weitgehend isoliert und verfügt über einen zunehmend eingeschränkten Einfluss auf zentrale europäische Entscheidungen. Die begrenzten Mitgestaltungsmöglichkeiten werden besonders deutlich an der Tatsache, dass Österreich zu keinem der beiden dringlichen Gipfeltreffen eingeladen wurde, die der französische Präsident Emmanuel Macron für die Ukraine einberufen hat.
Welche Bedeutung hat die Neutralität im aktuellen sicherheitspolitischen Kontext überhaupt noch?
Es stellt sich die Frage, ob sie überhaupt noch als glaubwürdiges sicherheitspolitisches Konzept tragfähig ist. Staaten wie Schweden und Finnland, die jahrzehntelang eine Politik der Neutralität oder Bündnisfreiheit verfolgten, haben sich bewusst für den NATO-Beitritt entschieden, da sie erkannt haben, dass kollektive Sicherheit heute einen besseren Schutz bietet. Nun steht die Möglichkeit im Raum, dass der Ukraine im Rahmen einer US-russischen Vereinbarung eine „immerwährende Neutralität“ aufgezwungen wird – ein Status, der weder aus eigener Entscheidung gewählt wäre noch durch glaubwürdige Sicherheitsgarantien abgesichert werden könnte. Ein solches Szenario würde ihre Verwundbarkeit festschreiben – mit potenziell weitreichenden Folgen für die Stabilität Europas insgesamt.
Neutralität bietet keinen effektiven Schutz vor modernen Bedrohungen
Inwieweit muss ein neutraler Staat seine Sicherheitspolitik an die neue Normalität der hybriden Kriegsführung anpassen?
Neutralität allein bietet keinen Schutz vor diesen Bedrohungen, da hybride Kriegsführung gezielt unterhalb der Schwelle eines klassischen militärischen Angriffs operiert und nicht durch traditionelle Abschreckungsmechanismen oder diplomatische Neutralität eingedämmt werden kann. Um ihre Sicherheit langfristig zu gewährleisten, müssen neutrale Staaten daher ihre Resilienz in zentralen Bereichen stärken: den Schutz kritischer Infrastruktur durch Investitionen in Cybersicherheit und Frühwarnsysteme, die Abwehr von Desinformation und Einflussoperationen durch robuste Nachrichtendienste und eine informierte Öffentlichkeit sowie die Sicherstellung einer glaubwürdigen Verteidigungsfähigkeit durch moderne Streitkräfte und Mobilmachungskonzepte.
Riskante Neutralität
Könnte die Neutralität vor diesem Hintergrund sogar zum Sicherheitsrisiko werden?
Während der Westen seine Unterstützung für die Ukraine stets mit Blick auf eine Eskalationsvermeidung gegenüber Russland dosiert hat, zeigt sich, dass auch Moskau direkte militärische Konfrontationen mit der NATO vermeiden will. Dies könnte tatsächlich dazu führen, dass Russland gezielt neutrale Staaten ins Visier nimmt, um geopolitische Fakten zu schaffen, ohne den Bündnisfall nach Artikel 5 auszulösen. Gerade diese Staaten sind besonders verwundbar, da ihnen der kollektive Schutzmechanismus der NATO fehlt und sie durch hybride Kriegsführung – etwa durch Cyberangriffe, wirtschaftlichen Druck oder Sabotageakte – leicht destabilisiert werden können. Diese Risiken machen deutlich, dass die klassische Neutralität nicht mehr als Sicherheitsgarantie funktioniert. Österreich ist gegenwärtig nicht ausreichend abwehrfähig, und die Neutralität bietet keinen effektiven Schutz vor modernen Bedrohungen. Eine offene sicherheitspolitische Debatte ist daher dringend erforderlich.
Welche Szenarien sind da vorstellbar?
Die geopolitische Dynamik zeigt, dass an der Ostflanke der NATO ein neuer Eiserner Vorhang entsteht, der Europa in einen erneuten Kalten Krieg zwischen den USA auf der einen und China sowie Russland auf der anderen Seite zu drängen droht. Während Österreich im Kalten Krieg als Brücke zwischen Ost und West diente, verliert diese Rolle an Bedeutung. Zudem schränkt die vertiefte Integration zwischen EU und NATO den Handlungsspielraum neutraler Staaten weiter ein.
Trittbrettfahrer Österreich
Es gibt aber auch Artikel 42 im EU-Vertrag. Böte dieser im Fall einer Attacke nicht einen ähnlichen Schutz wie die NATO-Schutzklausel?
Diese Beistandsklausel verpflichtet im Falle eines Angriffs auf ein EU-Mitglied die anderen Staaten, „alle in ihrer Macht stehenden Mittel“ zur Unterstützung bereitzustellen. Dennoch unterscheidet sich diese Regelung erheblich von Artikel 5 des NATO-Vertrags, da sie keine automatische kollektive Verteidigung vorsieht und die Art der Unterstützung – militärisch oder nicht-militärisch – den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Zudem fehlt der EU eine integrierte militärische Kommandostruktur, sodass die tatsächliche Einsatzfähigkeit einer solchen Beistandsverpflichtung von der politischen Willensbildung der Mitgliedstaaten abhängt.
Das bedeutet konkret?
Während für militärisch starke EU-Staaten eine Verpflichtung zu direktem militärischem Beistand abgeleitet werden kann, bleibt Österreich aufgrund seiner Neutralität durch die sogenannte „Irische Klausel“ von jeglicher militärischer Unterstützungspflicht ausgenommen. Dies führt zu einer sicherheitspolitischen Asymmetrie: Während Österreich im Krisenfall auf die Solidarität und den Schutz der EU zählen kann, ist es selbst nicht verpflichtet, anderen EU-Staaten militärisch beizustehen. Diese Diskrepanz führt dazu, dass Österreich langfristig als sicherheitspolitischer „Trittbrettfahrer“ wahrgenommen wird, und sie wirft die Frage auf, ob die Neutralität in ihrer bisherigen Form noch mit der wachsenden sicherheits- und verteidigungspolitischen Integration der EU vereinbar ist. Eine kritische Überprüfung der „irischen Klausel“ könnte ein notwendiger Schritt sein, um das sicherheitspolitische Engagement Österreichs glaubwürdiger zu gestalten.
Zur Person
Die 1979 in Sofia geborene bulgarisch-österreichische Politikwissenschaftlerin Velina Tchakarova studierte an den Universitäten Sofia, Heidelberg und Wien. Sie ist Gründerin des Forschungs- und Beratungsunternehmens FACE (For A Conscious Experience e.U.) und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Europäischen Forums Alpbach sowie im Security and Strategy Board der Wissenschaftskommission des österreichischen Verteidigungsministeriums.
De Maart
Eine als geopolitikerin getarnte waffellobbyistin deren einziges ziel ist ,das neutrale Oesterreich in die Nato hinein zu pressen.
Was natuerlich massive einkaeufe von waffen bei US und EU ruestungskonzernen verlangt, um die 3 oder 5 prozent huerde bei militaerausgeben zu erreichen.
Armselig dass so ein schwachsinn der eigentlich unter "sponsored content by arms dealers" passt hier in internationale nachrichten publiziert wird.
Das einst linke T schaemt sich wirklich fuer gar nichts mehr.