Bei der Vorstellung des Weißbuchs seiner Labour-Regierung benutzte der 62-Jährige am Montag ausdrücklich den Slogan der Brexit-Kampagne „take back control“ („Kontrolle zurückgewinnen“). Stattdessen habe die konservative Vorgänger-Regierung ein „nationales Experiment mit offenen Grenzen“ durchgeführt: „Statt Kontrolle haben wir Chaos erlebt.“
Das Innenministerium bedient sich als Grundlage der Einwanderungspolitik einer Statistik, die nicht auf Zahlen, sondern auf Schätzungen beruht: Einwanderer minus Auswanderer ergibt die sogenannte Netto-Einwanderung. Diese lag im Mai 2023 knapp unter einer Million Menschen jährlich, im vergangenen Jahr bei 728.000. Maßnahmen der früheren Tory-Regierung unter Rishi Sunak sowie der seit Juli amtierenden Innenministerin Yvette Cooper dürften die jüngste Zahl für 2024/25 – sie soll noch in diesem Monat veröffentlicht werden – auf rund 400.000 gedrückt haben.
Bis heute gibt es auf der Insel keine Meldepflicht, sodass niemand genau weiß, wie viele Menschen im Land leben und arbeiten. Allein für die Hauptstadt London wird die Zahl der klandestin Lebenden auf mehr als 600.000 Menschen geschätzt.
In seiner kurzen Rede beschrieb Starmer Nationen als „basierend auf fairen Regeln“. Diese müssten nicht immer schriftlich fixiert sein, seien aber der Rahmen für „unsere Werte, Rechte und Pflichten“. Gerade in ethnisch und religiös diversen Ländern wie Großbritannien – diese Entwicklung begrüßte Starmer ausdrücklich – wachse die Bedeutung solcher Regeln. „Ohne sie riskieren wir die Entwicklung zu einer Insel von Fremden anstatt zu einer Nation, die gemeinsam in die Zukunft geht.“
Ausnahmen bei Zuwanderung
Von einer umfassenden Reform der Einwanderungspolitik spricht Starmer schon seit Jahren. Dass seine Regierung gerade jetzt das Weißbuch zum geplanten Gesetz vorlegt, dürfte mit zwei Faktoren zu tun haben: Zum einen erlitt Labour bei den englischen Kommunalwahlen Anfang Mai eine schwere Schlappe, auch bei landesweiten Umfragen liegt Nigel Farages nationalpopulistische Reform-Party deutlich vor der Regierungspartei. Zum anderen soll kommende Woche die seit langem angebahnte Annäherung der Brexit-Insel an die EU vertraglich fixiert werden.
Brüssel verlangt als Preis für besseren Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt unter anderem bessere Bedingungen für junge Leute, die bis zu drei Jahre in Großbritannien leben, studieren und arbeiten wollen. Dagegen polemisiert das schrumpfende Häuflein der Brexit-Propagandisten schon seit Wochen heftig. Dass jungen Briten innerhalb der EU dieselben Rechte eingeräumt würden, fällt dabei unter den Tisch.
Sunder Katwala beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Einwanderungspolitik. Einer jüngsten Umfrage für seinen Thinktank British Future zufolge wollen 50 Prozent der Briten die Zahl der Einwanderer reduzieren, ein Drittel sogar „erheblich“; 45 Prozent haben mit dem jetzigen Level kein Problem oder würden sogar mehr Immigration begrüßen. Bei Berufsgruppen, für die auch weiterhin Ausnahmen gelten sollten, schneiden Ärztinnen (77 Prozent) kaum besser ab als geringqualifizierte Altenpflegerinnen (71) oder Erntehelferinnen (70); für letztere sollen Coopers Plan zufolge künftig kaum noch Visas vergeben werden. Auch bei ausländischen Studierenden geben sich beinahe zwei Drittel (65 Prozent) mit der derzeitigen Zahl zufrieden.
Magere Ergebnisse bei Kampf gegen Schlepper
Mit der Toleranz gegenüber letzterer Gruppe beweisen die Befragten Realitätssinn, hängt doch eine erhebliche Zahl britischer Unis am Finanztropf ihrer Kunden aus dem Ausland. Jonathan Simons von der Beratungsfirma Public First hat kürzlich auf die Bedeutung der Lehranstalten für die lokale Wirtschaft vieler mittelgroßer und kleinerer Städte hingewiesen. So gehört die Uni im nordenglischen Huddersfield (Umsatz: 213,5 Mio. Euro) nicht nur zu den wichtigsten Arbeitgebern der Stadt; sie verschönert durch die gewaltigen Studiengebühren der ausländischen Lernwilligen auch die Exportbilanz der Region. „In vielen dieser Städte stellt die Universität dar, was früher die Autofabrik oder das Stahlwerk waren“, bilanziert Simons.
Für Innenministerin Cooper bleibt die Eindämmung der irregulären Einwanderung mit Schlauchbooten von Frankreich ins Königreich, quer durch eine der meistbefahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt, eines der brisantesten Probleme. Dass dabei beinahe wöchentlich Menschen ums Leben kommen, ist den britischen Medien kaum noch eine Erwähnung wert. Alle Bemühungen im Dialog mit den europäischen Verbündeten, „die kriminellen Schlepperbanden zu zerschlagen“, wie Premier Starmer fordert, zeigen bisher nur magere Ergebnisse.
De Maart
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