GroßbritannienGaza-Krieg: Rechte Politiker melden sich mit islamophoben Slogans zu Wort

Großbritannien / Gaza-Krieg: Rechte Politiker melden sich mit islamophoben Slogans zu Wort
Der Tory-Abgeordnete Lee Anderson wurde von Premier Rishi Sunak wegen seiner Äußerungen über den Londoner Bürgermeister von der Fraktionsmitgliedschaft suspendiert Foto: Oli Scarff/AFP

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Üben radikale Muslime Einfluss auf die Politik Großbritanniens aus? Mit diesem Vorwurf führender Vertreter vom rechten Parteiflügel musste sich zu Wochenbeginn die konservative Regierung von Premier Rishi Sunak herumschlagen.

Gegen den Speaker des Unterhauses erhob die frühere Innenministerin Suella Braverman den Vorwurf, dieser habe aus Furcht vor pro-palästinensischen Demonstranten hergebrachte Parlamentskonventionen umgestoßen: „Die Islamisten beherrschen das Land.“ Ein früherer Vize-Generalsekretär hält den muslimischen Londoner Bürgermeister für „von Islamisten kontrolliert“.

Seit den Hamas-Massenmorden vom 7. Oktober und der anschließenden blutigen Gaza-Offensive Israels bestimmt das Geschehen im Nahen Osten die politische Diskussion der einstigen Kolonialmacht. Pro-palästinensische Protestmärsche verzeichneten Hunderttausende friedliche Demonstranten, aber auch kleine Gruppen mit gewaltverherrlichenden und antisemitischen Parolen oder Emblemen. Braverman, damals noch im Amt, sprach deshalb von „Hassmärschen“.

Auf den bekannten unsozialen Medien haben antisemitische Beleidigungen stark zugenommen, gelegentlich kommt es auch im richtigen Leben zu ernsten Zwischenfällen. Unterdessen setzen pro-palästinensische Aktivisten individuelle Abgeordnete durch Demonstrationen vor Wahlkreisbüros und Privathäusern unter Druck. Im Visier haben sie all jene Volksvertreter, die nicht einem sofortigen, bedingungslosen Waffenstillstand im Gaza-Krieg das Wort reden; diese werden als „Kriegsverbrecher“ und „mitschuldig am Völkermord“ denunziert.

Gefälschte Plakate im Ost-Londoner Wahlkreis Ilford eines prominenten Sozialdemokraten zeigten das Logo der Arbeiterpartei mit dem Slogan „Wählt Labour für Genozid“. Den prominenten konservativen Hinterbänkler Tobias Ellwood und dessen Kinder hinderte der Mob Mitte Februar für mehrere Stunden am Betreten seines Privathauses. Mindestens drei mit dem Tode bedrohten Parlamentarierinnen unterschiedlicher Fraktionen haben die Behörden Personenschutz zugesprochen, eine Vielzahl weiterer Abgeordneter tragen bei öffentlichen Auftritten einen sogenannten Panik-Alarm mit Standleitung zur örtlichen Polizei mit sich.

Londons Bürgermeister Khan im Visier

Auf diese Vorgänge nahm der frühere Labour-Abgeordnete und nun als neutraler Parlamentspräsident fungierende Speaker Lindsay Hoyle Bezug, als vergangene Woche das Unterhaus wieder einmal über Gaza debattierte. Bestehenden Konventionen zufolge hätte es am Ende der Debatte nur zwei Abstimmungen gegeben: über Anträge der Initiativfraktion, nämlich der schottischen Nationalpartei SNP sowie der konservativen Regierung. Hoyle nahm zusätzlich den Antrag von Labour ins Programm mit der Begründung, er wolle „eine möglichst breite Meinungspalette“ abbilden.

Erst nachdem SNP und Torys wütend protestierten, schob Hoyle ausdrücklich die Gefährdung von Abgeordneten als Begründung nach. Gerüchten, wonach der Speaker unter massiven Druck von Labour-Oppositionsführer Keir Starmer gekommen sei, wiesen beide Seiten empört zurück. Vielmehr wolle er nicht noch mal über einen „Angriff auf einen Kollegen“ informiert werden, sagte der sichtlich ergriffene 66-Jährige. 2021 war der Tory-Abgeordnete David Amess von einem Islamisten in seinem Wahlkreisbüro erstochen worden.

Steht die Insel deshalb aber kurz vor der Machtergreifung durch religiöse Fanatiker? In der Hauptstadt, so der frühere Tory-Vizegeneralsekretär Lee Anderson, sei dies bereits gelungen: Der muslimische Labour-Bürgermeister Sadiq Khan habe „London seinen Freunden übergeben“ und werde „von Islamisten kontrolliert“. Der Betroffene sprach empört von „Hass gegen Muslime“. Bei der Kommunalwahl im Mai bewirbt sich der 53-Jährige um eine dritte Amtszeit, und wie schon im ersten Wahlkampf versuchen die Konservativen, mit Anspielungen auf Khans Religion Punkte zu machen.

Gefallen an unflätiger und faktenfreier Rhetorik

Der Parteifreund liege falsch, sagte Premier Sunak, ein bekennender Hindu, am Montag und suspendierte Andersons Fraktionsmitgliedschaft: „Seine Worte waren nicht akzeptabel, und Worte zählen, gerade in dieser aufgeheizten Atmosphäre.“

Erkennbar haben Anderson, Braverman und andere rechte Hardliner wie Liz Truss Gefallen an unflätiger und faktenfreier Rhetorik à la Donald Trump gefunden. Die katastrophal gescheiterte Kurzzeit-Regierungschefin Truss hatte im Herbst 2022 alle Warnungen seriöser Ökonomen ignoriert und durch ungedeckte Steuersenkungen beinahe die britische Volkswirtschaft ruiniert. Schuld an ihrem Scheitern sei ein von linken Aktivisten geleiteter „Staat im Staate“ (deep state), fantasierte die Politikerin vergangene Woche auf einer Republikaner-Konferenz in den USA. Zu ihren Gegnern zählte sie auch die hoch angesehenen Wirtschaftsmedien Economist und Financial Times.

Truss und Braverman konkurrieren um den Tory-Parteivorsitz für die Zeit nach der quer durch alle Parteien erwarteten krachenden Wahlniederlage in diesem Jahr. Anderson verdient gutes Geld mit Auftritten im rechtskonservativen TV-Sender GB News, dessen Journalismus zunehmend auf ein Erstarken der früheren Brexit-Party (heute Reform UK) des Nationalpopulisten Nigel Farage abzielt.