Irgendwo zwischen der Scylla der Fernsehserien, die das weitläufige Erzählen verfeinert haben, und der Charybdis der sozialen Medien, die die Aufmerksamkeitsspanne für Texte auf wenige hundert Zeichen verkürzt haben, scheint der Roman mal wieder in der Krise zu stecken. Auf der Shortlist des wichtigsten britischen Literaturpreises landet Jahr für Jahr das, was die Reste der Avantgarde abfällig als „middlebrow realism“ bezeichnen: gesellschaftskritische Erzählungen mit Fokus auf dem Individuum und einer Sprache, die in der Literaturgeschichte kurz vor Virginia Woolf ausgestiegen ist.
Mit „No One Is Talking About This“ ragt jedoch ein Titel aus der diesjährigen Auswahl heraus. Hier macht sich ausgerechnet eine Lyrikerin an eine formale Erneuerung des Erzählens – und das, wiederum ausgerechnet, mit dem Thema soziale Medien. Wer die 200 Seiten von Patricia Lockwoods Debütroman durchblättert, erkennt aufgrund der kurzen Abschnitte, die von Leerzeilen umrahmt werden, schnell, dass sich die Autorin formal bei den üblichen Verdächtigen Facebook, Twitter und Instagram bedient.
„Communal stream of consciousness“
Dabei vermeidet sie die einfache Möglichkeit, einen „Roman in Post-Form“ (was es auch schon gab) zu schreiben und damit wieder bloß nachahmen zu wollen. Lockwood präsentiert die Welt der sozialen Medien, die hier nur unter dem Namen „the portal“ firmiert, als „communal stream of consciousness“. Man taucht ein in, oder besser gesagt, scrollt durch das, was den Bewohner*innen zeitgenössischer westlicher Gesellschaften durch den Kopf geht.
Zwar hat das Buch auch eine Heldin, die als Influencerin durch die Welt reist und Vorträge hält, aber Ruhm und Likes verdankt die namenlose junge Frau einem sinnentleerten Satz, den auch irgendjemand anderes hätte posten können: „Can a dog be twins?“ Letztlich ist sie nur ein Sprachrohr, ein besonders exponierter Knotenpunkt eines Netzwerks, das sich mit dem gleichen Elan über Kapitalismus und Klimawandel echauffieren kann, mit dem es Tiervideos oder Schnipsel aus der Popkultur der Achtziger- und Neunzigerjahre teilt.
Postmoderner Pastiche
„No One Is Talking About This“ ist ganz postmoderner Pastiche, bei dem die Merkmale der sozialen Medien zitiert, verdichtet und kondensiert werden, ohne dass dabei eine offensichtliche Kritik erkennbar wäre. Der Ton ist durchgängig ironisch, die Erzählerin ist stets amüsiert, gerade ob der kuriosen Wandlungen, die die Sprache im Netz erfährt: „,Don’t normalize it!!!!!‘ we shouted at each other. But all we were normalizing was the use of the word normalize, which sounded like the action of a ray gun wielded by a guy named Norm to make everyone around him Norm as well.“
Doch zwischendurch beschleicht sie ein ungutes Gefühl, denn der Wahlerfolg des „dictator“, der das Land gerade beherrscht, hängt irgendwie mit dem „portal“ zusammen, und wer weiß, was der kollektive Bewusstseinsstrom, hat er die eigene Aufmerksamkeit erst einmal gekapert, sonst noch alles mit einem anstellt. „A person might join a site to look at pictures of her nephew and five years later believe in a flat earth“, heißt es dazu süffisant.
Über 100 Seiten schreitet der Roman so ohne größere Entwicklungen oder Veränderungen voran, als ob man auf dem Handy einfach immer weiterscrollen würde, nur dass die „Posts“ hier um einiges stilsicherer sind und auf andere Art und Weise kuratiert. Man kann das mal mit mehr und mal mit weniger Gewinn lesen. Gerade der zentrale Gedanke der sozialen Medien als neue Form von Stream of Consciousness wird von der Erzählerin oft eher postuliert als konsequent in die Tat umgesetzt.
180-Grad-Wende zur Wirklichkeit
Allerdings vollzieht „No One Is Talking About This“ in der Mitte eine 180-Grad-Wende: Die Heldin bekommt die Nachricht, dass die ungeborene Tochter ihrer Schwester einen schweren Gendefekt hat, und reist in das Zuhause ihrer Kindheit nach Ohio. Fortan erzählt Patricia Lockwood davon, wie die Familie mit der Schwangerschaft und Geburt des Kindes, das nur ein kurzes Leben haben wird, umgeht.
Für die Protagonisten bedeutet dies zugleich ein Abschied aus dem „portal“. Was sie jetzt erlebt, die Art, wie sie die Welt erfährt, scheint mit der Arbeitsweise des Netzes unvereinbar, wie sie beim Versuch, einen Beitrag darüber zu schreiben, feststellt: „Where was the fiction? Distance, arrangement, emphasis, proportion?“ Sie tritt gleichsam aus dem Chor der sozialen Medien und ihrer Künstlichkeit aus und wird zum aufrichtigen Individuum.
Diese Geschichte mag berühren und, wie das Nachwort nahelegt, durch ihre autobiografische Verankerung ein besonderes Gewicht haben, läuft in der Anlage des Romans allerdings auf eine simple Gegenüberstellung zwischen der Fake-Welt der sozialen Medien und der authentischen Welt des Familienlebens hinaus. Damit restituiert die Autorin zwar nicht gleich auch noch das realistische Erzählen, aber dennoch scheinen die Fragen des Romans so einfach gelöst, wenn nicht beiseite gewischt, dass die Lektüre einen enttäuscht zurücklässt.
Info
Patricia Lockwood: „No One Is Talking About This“. Bloomsbury, London 2021. 224 Seiten, 8,99 GBP.

De Maart
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