Mittwoch5. November 2025

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AusstellungFalsche Projektionen und gestürzte Denkmäler: „The True Size of Africa“ im Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Ausstellung / Falsche Projektionen und gestürzte Denkmäler: „The True Size of Africa“ im Weltkulturerbe Völklinger Hütte
Schwarze Geschichte: Roméo Mivekannin mit der Installation „The Souls of Black Folk“ Foto: Hans-Georg Merkel/Weltkulturerbe Völklinger Hütte

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Eine Ausstellung, die den von Rassismus und Kolonialismus geprägten Blick Europas auf die Geschichte Afrikas aufbrechen möchte und gleichzeitig die zeitgenössische Kunst des Kontinents und der afrikanischen Diaspora feiert? Klingt ambitioniert? Eine Ausstellung im Weltkulturerbe Völklinger Hütte versucht sich daran.

Die Melodie, sie ist wohlbekannt, doch die Worte erscheinen neu und fremd. Läuft man den verwinkelten Metallsteg entlang, der in einigen Metern Höhe vom Wasserhochbehälter, dem neuen Eingang des Weltkulturerbes, zur Gebläsehalle der Völklinger Hütte führt, begleiten einen vertraute Töne. Das Steigerlied, ein deutsches Bergmannslied, in der Kohleregion im Südsaarland so etwas wie eine Regionalhymne. Doch statt des üblichen „Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht …“ versteht man erst einmal gar nichts. Denn der Text ist auf Oshivambo, eine der Regionalsprachen Namibias. Der Künstler Emeka Ogboh hat ihn neu verfasst, eingesungen hat ihn der A-cappella-Chor African Vocals aus Windhoek, der Hauptstadt Namibias. Statt von der Hoffnung der Bergleute auf eine Rückkehr ans Tageslicht handelt das Lied nun von kolonialer Landnahme, von Ausbeutung und Wunden, aber auch von Neubeginn. 

Mit der Klanginstallation „The Land Remembers“ beginnt die Ausstellung „The True Size of Africa“, die noch bis zum 17. August in der Völklinger Hütte zu sehen ist. „Ein immaterielles deutsches Kulturerbe wird afrikanisches Liedgut“, sagt Ralf Beil, Generaldirektor des Weltkulturerbes Völklinger Hütte. Ein Spannungsfeld zwischen fremd und bekannt. Und dazwischen die gemeinsame Geschichte. „The Land Remembers“ schmeichelt in seiner beinahe sakralen Schönheit – und irritiert. Es ist die perfekte Einstimmung auf das, was folgt.

Europäische Perspektiven zurechtrücken

„The True Size of Africa“ ist die größte Ausstellung, die in der Völklinger Hütte bislang gezeigt wurde. Es gibt einen historischen Museumsteil und eine moderne Kunstschau. 26 Künstler zeigen Werke und Installationen auf beinahe dem gesamten Hüttengelände. Der Titel gibt dabei die Stoßrichtung vor: Es geht darum, Projektionen zu entlarven. „Der Titel der Ausstellung ist von Kai Krause geliehen“, sagt Beil. Der deutsche Grafik-Designer hat vor einigen Jahren eine Karte entwickelt, die die tatsächliche Größe Afrikas darstellt –nicht verzerrt wie in der klassischen Mercator-Projektion aus dem Schulatlas. In Krauses Afrika stecken dann auch die gesamte USA, ganz China, Indien, Japan und so ziemlich alle Staaten von Europa. In Völklingen markiert sie den Beginn des Ausstellungsparcours.

Gestürztes Denkmal: Skulptur von Hermann von Wissmann aus dem Jahr 1909
Gestürztes Denkmal: Skulptur von Hermann von Wissmann aus dem Jahr 1909 Foto: Hans-Georg Merkel/Weltkulturerbe Völklinger Hütte

„Wir setzen der großen, oft geschönten Erzählung unserer westlichen Zivilisation exemplarisch neue Erzählungen von Afrika gegenüber, die uns zum Spiegel und zur Quelle der Selbsterkenntnis werden können“, sagt Beil über das Konzept der Ausstellung. Doch um das zu erreichen, muss erst einmal ein historisches Verständnis als Grundlage gelegt werden. Dies übernimmt das sogenannte „Museum of Memorability“ gleich zu Beginn. Eine Ausstellung in der Ausstellung, die Afrikas Rolle in Geschichte und Gegenwart reflektiert und die von Kolonialismus geprägte Perspektive Europas zurechtrückt – von der Wiege der Menschheit auf dem afrikanischen Kontinent über ägyptische Pharaonen bis zu den Verwicklungen deutscher Industrieller im transatlantischen Versklavungshandel und dem rassistischen Mord am ghanaischen Asylbewerber Samuel Yeboah in Saarlouis 1991. Ein Highlight dabei: Das 1968 in Daressalam gestürzte Denkmal des deutschen Kolonialisten Hermann von Wissmann, das – weiterhin gestürzt – in seiner originalen Transportkiste auf dem Hallenboden ruht, umrahmt von einem Video, das Black-Lives-Matter-Aktivisten zeigt, wie sie im Sommer 2020 die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol niederreißen.   

Das klingt nach viel Stoff. Und das ist es auch. Die Ausstellung eröffnete im November 2024 – genau 140 Jahre nach der Berliner Kongokonferenz im Jahr 1884, auf der die europäischen Kolonialmächte nach Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck Afrika ohne jegliche afrikanische Beteiligung unter sich aufgeteilt hatten. „The True Size of Africa“ ist –  wie alle Ausstellungen, seit Beil 2020 den Posten des Generaldirektors übernahm – in bester Weise ambitioniert. Ein weiteres Mammutwerk. Eine historische Ausstellung, die aufklären und bilden will auf der einen Seite, eine panafrikanische zeitgenössische Kunstschau auf der anderen.

Der schwierige Spagat gelingt. „The True Size of Africa“ ist eine Populärausstellung mit geringer Eintrittsschwelle. Vor allem die historische Einleitung macht sie verständlich für Einsteiger – obgleich sie wegen ihrer Größe für einen einzigen Besuch etwas überwältigend ist. Gleichzeitig fordert „The True Size of Africa“ jedoch auch Eingeweihte heraus. Die Ausstellung möchte mit Vorurteilen gegenüber afrikanischer Kunst brechen, mit dem eurozentrischen Blick, der in Afrika die reine Natur sieht – ohne Kultur und Geist, ohne Geschichte und Tiefe. Rassistische Vorurteile und Stereotype, die bis heute die Kunstrezeption prägen.

Imagination einer anderen Vergangenheit

Hinter dem „Museum of Memorability“ öffnet sich die Ausstellung, Werke und Besucher haben Platz zu atmen. Über den Seitengängen der Gebläsehalle hängen überlebensgroße Porträts des senegalesischen Fotografen Omar Victor Diop. In Völklingen zeigt der Künstler mehrere Fotoreihen, darunter die Serie „Diaspora“. Diop stellt historische Porträts schwarzer Persönlichkeiten im fotografischen Selbstporträt nach – und bricht die Ästhetik mit Fußballutensilien wie einem Torwarthandschuh. Seine Werke sind gleichzeitig Reminiszenz an Figuren, die die europäische Geschichtsschreibung vergessen hat, und eine Anklage an bis heute wirkende rassistische Strukturen, die vielen Menschen aus Afrika gesellschaftlichen Aufstieg in Europa nur durch sportliche Leistungen ermöglichen. 

Hommage an „Mama Africa“: Sandra Seghirs Gemälde „I am a river whose source has been forgotten and whose end will never come“
Hommage an „Mama Africa“: Sandra Seghirs Gemälde „I am a river whose source has been forgotten and whose end will never come“ Foto: Courtesy of the artist and Selebe Yoon, Dakar

Eigens für die Ausstellung in Völklingen entstanden ist ein Werk der in Dakar lebenden libanesisch-guineischen Malerin Sandra Seghir: „I am a river whose source has been forgotten and whose end will never come“. Ein surrealistisches Gemälde, das die Wirkmacht der südafrikanischen Sängerin Miriam Makeba über ihren Tod hinaus andeutet. „Musik ist das Medium des afrikanischen Ausdrucks“, sagt Seghir, deren zweites Werk in Völklingen die Rolle von Kunst und Musik in den Widerstandsbewegungen der westafrikanischen Unabhängigkeit erkundet und Fela Kuti, dem Erfinder des Afrobeats, Tribut zollt.

Die kubanische Künstlerin Susana Pilar Delahante Matienzo wiederum hat Holzkommoden, Schränke und Schreibtische aus dem 19. Jahrhundert gesammelt und darauf scheinbar alte, patinierte Fotografien verteilt, die schwarze Frauen in bürgerlicher Kleidung der Jahrhundertwende zeigen – beim Kaffeeklatsch oder auf Kutschfahrt. Allein: Die Bilder sind KI-generiert, sie zeigen eine Vergangenheit, die es so nie gab.

„Achievement“, so heißt die Installation, steht exemplarisch für viele Werke von „The True Size of Africa“. In ihren besten Momenten konfrontiert die Ausstellung ihre Besucher mit den eigenen, antrainierten Rezeptionsmechanismen. Findet man das jetzt schlau oder zu platt? Ist das eine quasi afrofuturistische Imagination einer schwarzen Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, in einer Welt ohne Kolonialismus und Sklaverei? Oder doch nur eine Imitation weißer Bürgerlichkeit ohne eigene Kultur und Geschichte? Einfache Antworten gibt es nicht. Die Fragen allein entlarven den Betrachter mehr als alles andere. Die Debatte im eigenen Kopf, das Nachdenken, das Zurechtrücken und Neupositionieren hat schon begonnen. Was mehr kann man sich wünschen von einer Kunstschau?

Imaginierte Vergangenheit: Susana Pilar Delahante Matienzo und ihre KI-generierten Fotografien
Imaginierte Vergangenheit: Susana Pilar Delahante Matienzo und ihre KI-generierten Fotografien Foto: Oliver Ottenschläger/Courtesy: Susana Pilar and Galleria Continua