Ist die wirtschaftliche Stagnation Europas das Ergebnis unzureichender keynesianischer Impulse oder sind die aufgeblähten und sklerotischen Wohlfahrtsstaaten daran schuld? Wie auch immer – klar ist, dass diejenigen, die glauben, dass einfache Maßnahmen wie höhere Haushaltsdefizite oder niedrigere Zinssätze Europas Probleme lösen können, den Bezug zur Realität verloren haben.
In Frankreich beispielsweise hat die aggressive Konjunkturpolitik das Haushaltsdefizit bereits auf 6% vom BIP steigen lassen, während die Schuldenquote von 95% im Jahr 2015 auf 112% gestiegen ist. 2023 sah sich Präsident Emmanuel Macron weitreichenden Protesten ausgesetzt, als er beschloss, das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre anzuheben – ein Schritt, der – wenngleich sinnvoll – kaum an der Oberfläche der Haushaltsprobleme des Landes kratzt. Wie die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, kürzlich warnte, ist der finanzpolitische Kurs Frankreichs ohne weitreichende Reformen untragbar.
Viele amerikanische und britische Progressive bewundern Frankreichs Modell des „Big Government“ und wünschen sich, dass ihre eigenen Länder eine ähnliche Politik verfolgen würden. Die Schuldenmärkte allerdings sind sich in letzter Zeit der von Frankreichs ausufernder Verschuldung ausgehenden Risiken bewusst geworden. Bezeichnenderweise zahlt die französische Regierung inzwischen einen höheren Risikoaufschlag als Spanien.
Hohe Schuldenlast hemmt Wachstum
Da die realen Zinssätze für Staatsanleihen in den hoch entwickelten Volkswirtschaften – sofern es nicht zu einer Rezession kommt – hoch bleiben dürften, kann sich Frankreich seiner Schulden- und Rentenprobleme nicht einfach durch Wachstum entledigen. Stattdessen wird die hohe Schuldenlast mit ziemlicher Sicherheit die langfristigen Wirtschaftsaussichten des Landes belasten. 2010 und 2012 veröffentlichten Carmen M. Reinhart und ich zwei wissenschaftliche Aufsätze, in denen wir argumentierten, dass eine übermäßige Verschuldung dem Wirtschaftswachstum abträglich sei. Die trägen, verschuldeten Volkswirtschaften Europas und Japans sind, wie spätere wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt haben, Paradebeispiele für diese Dynamik.
Eine hohe Schuldenlast hemmt das BIP-Wachstum, indem sie die Möglichkeiten der Regierungen einschränkt, auf Konjunkturabschwächungen und Rezessionen zu reagieren. Mit einer Schuldenquote von nur 63% des BIP hat Deutschland reichlich Spielraum, um seine marode Infrastruktur zu erneuern und sein leistungsschwaches Bildungssystem zu verbessern. Wenn derartige Investitionen effektiv umgesetzt werden, könnten sie langfristig genug Wachstum generieren, um ihre Kosten auszugleichen. Doch sind Haushaltsspielräume nur dann wertvoll, wenn er klug genutzt wird: In der Realität hat sich Deutschlands „Schuldenbremse“ – die das jährliche Defizit auf 0,35% vom BI begrenzt – als zu unflexibel erwiesen und die kommende Regierung muss einen Weg finden, sie zu umgehen.
Auch werden höhere öffentliche Ausgaben ohne signifikante Reformen kein nachhaltiges Wachstum bringen. Insbesondere muss Deutschland Schlüsselelemente der Hartz-Reformen wieder in Kraft setzen, die Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang der 2000er-Jahre einführte. Diese Maßnahmen, die den deutschen Arbeitsmarkt im Vergleich zum französischen deutlich flexibler machten, trugen maßgeblich dazu bei, Deutschland vom „kranken Mann Europas“ in eine dynamische Wirtschaft zu verwandeln. Doch ein wirtschaftspolitischer Linksruck hat einen Großteil dieser Fortschritte wieder zunichtegemacht und Deutschlands viel gepriesene Effizienz ernsthaft untergraben. Die Fähigkeit des Landes zur Errichtung dringend benötigter Infrastruktur hat sichtbar gelitten. Ein krasses Beispiel ist der Flughafen Berlin-Brandenburg, der erst 2020 mit zehn Jahren Verspätung eröffnet wurde und dreimal so viel kostete wie geplant.
Deutschland wird seine derzeitige Malaise irgendwann überwinden, aber die entscheidende Frage ist, wie lange das dauern wird. Anfang des Monats entließ Bundeskanzler Olaf Scholz Finanzminister Christian Lindner, was zum Zusammenbruch seiner fragilen Koalitionsregierung führte. Da für den 23. Februar Wahlen angesetzt sind, muss der uncharismatische Scholz nun zurücktreten und einem anderen Sozialdemokraten die Führung überlassen, sonst riskiert er die Implosion seiner Partei.
Scholz hat sich bisher den Aufforderungen widersetzt, seine Kandidatur für die Wiederwahl aufzugeben, und damit die Chancen seiner Partei auf einen Verbleib an der Macht aufs Spiel gesetzt. Sein Zögern, zurückzutreten, ähnelt dem von US-Präsident Joe Biden, der zu lange wartete, um das Staffelholz an eine jüngere Kandidatin weiterzureichen – ein Fehltritt, der zweifellos zu deren entscheidender Wahlniederlage beigetragen hat.
Tourismus als Retter in der Not
Inmitten dieser politischen Turbulenzen sieht sich Deutschland mit wachsenden Herausforderungen konfrontiert, die seinen Status als wirtschaftliches Kraftzentrum Europas bedrohen. Während der fortdauernde Krieg in der Ukraine das Vertrauen der Anleger untergräbt, muss sich Deutschlands industrielle Basis erst noch vom Verlust der billigen russischen Energieimporte erholen. Derweil hat der Automobilsektor Schwierigkeiten dabei, von Verbrennern auf Elektrofahrzeuge umzusteigen, und hinkt der globalen Konkurrenz hinterher und die Exporte nach China – dessen Wirtschaft ebenfalls ins Stocken geraten ist – sind stark rückläufig.
Diese Probleme dürften zu bewältigen sein, wenn nächstes Jahr eine konservativere, marktorientierte Regierung an die Macht kommt. Deutschland wieder auf Kurs zu bringen wird jedoch alles andere als einfach, da die öffentliche Unterstützung für Strukturreformen weiterhin gering ist. Ohne drastische Veränderungen wird es der deutschen Wirtschaft schwerfallen, die nötige Dynamik und Flexibilität wiederzuerlangen, um den Auswirkungen von Trumps drohenden Zollkriegen standzuhalten.
Während die meisten anderen europäischen Volkswirtschaften vor ähnlichen Herausforderungen stehen, könnte Italien unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni – der wohl effektivsten Führungspersönlichkeit des Kontinents – etwas besser abschneiden. Spanien und mehrere kleinere Volkswirtschaften, insbesondere Polen, könnten die von Deutschland und Frankreich hinterlassene Lücke teilweise füllen. Aber sie können die Schwäche der beiden wirtschaftlichen Schwergewichte der EU nicht vollständig ausgleichen.
Die wirtschaftlichen Aussichten wären noch weitaus düsterer, wäre Europa nicht so attraktiv für Touristen – insbesondere für amerikanische Reisende, die mit ihrem starken Dollar die Branche stützen. Dennoch bleiben die Aussichten für 2025 trübe. Obwohl eine Erholung der europäischen Volkswirtschaften immer noch möglich ist, werden keynesianische Konjunkturimpulse nicht ausreichen, um ein robustes Wachstum aufrechtzuerhalten.
Aus dem Englischen von Jan Doolan. Copyright: Project Syndicate, 2024. www.project-syndicate.org.
* Kenneth Rogoff war Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und ist heute Professor für Volkswirtschaft und Public Policy an der Universität Harvard. Er wurde 2011 mit dem Deutsche Bank Prize in Financial Economics ausgezeichnet und ist Mitverfasser (zusammen mit Carmen M. Reinhart) von „Diesmal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen“ (FinanzBuch Verlag, 2010) und Verfasser des in Kürze erscheinenden Buches „Our Dollar, Your Problem“ (Yale University Press, 2025).
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