GesprächEU-Sozialkommissar Nicolas Schmit zur sozialen Krise in der Pandemie

Gespräch / EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit zur sozialen Krise in der Pandemie
EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit will mit seinem Vorschlag zur Einführung eines Mindestlohnes in allen EU-Staaten auch den Sozialdialog und die Tarifpolitik stimulieren Foto: AFP/various sources/François Walschaerts

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Die Corona-Pandemie ist auch eine soziale Krise. Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz oder müssen in Kurzarbeit. Mit dem EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit sprachen wir darüber, was die Kommission dagegen tut, ob Heimarbeit Pflicht werden soll, aber auch wie es um die Rechte von sogenannten Plattformarbeitern steht.

Tageblatt: Herr Kommissar, die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie haben eine wirtschaftliche und soziale Krise ausgelöst. In Paris stehen Studenten Schlange vor den Suppenküchen, in den Niederlanden kam es zu Krawallen. Wie ernst ist die Lage?

Nicolas Schmit: Wir haben es mit einem neuen Armutsproblem zu tun. Es erfasst jetzt Leute, die eigentlich nie daran gedacht hätten, jemals in einer solchen Schlange zu stehen. Das müssen wir angehen, ganz schnell. Das machen wir auch, etwa mit FEAD. Das ist der europäische Fonds für weniger begünstigte Menschen – also die, die auf solche Suppenküchen angewiesen sind. Diese Suppenküchen funktionieren zum Teil mit europäischen Geldern. Wir bezahlen zum Beispiel jedes vierte Essen in Frankreich.

Viele Schulabgänger und Studenten haben Angst, nach dem Abschluss keinen Job zu finden und durchs Raster zu fallen. Droht uns eine verlorene Generation?

Wir dürfen nicht sagen, dieser oder jener Abschluss wurde während der Pandemie gemacht und ist deshalb weniger wert. Junge Menschen machen unglaublich viele Anstrengungen – ich erlebe das auch bei mir zu Hause. Ich habe Kinder, die noch auf der Universität sind, und eine Tochter, die ihr Abitur macht. Die machen unglaubliche Anstrengungen, um in schwierigen Zeiten, in einem schwierigen Umfeld zu studieren und zu lernen. Es ist nicht so, dass diese Generation jetzt irgendwie abgeschrieben werden dürfte. Wir tun alles, damit es keine verlorene Generation gibt.

Wie sieht es mit den Arbeitnehmern aus? Viele stecken wegen der Krise in Kurzarbeit, auch das wird von der EU finanziert – mit dem Programm SURE. Was hat die Hilfe gebracht?

Mit SURE hat die Kommission gezeigt, dass Europa schnell handeln kann und richtig handelt. 19 Mitgliedstaaten haben das Instrument gebraucht und auch Geld bekommen, insgesamt stehen 100 Milliarden Euro zur Verfügung. Mit SURE ist es gelungen, Arbeitsplätze und Einkommen zu schützen, sodass ein potenziell noch größerer Schock während der Pandemie abgewendet werden konnte. Jetzt läuft das System der Kurzarbeit allerdings etwas aus …

… aber die Krise geht weiter – wegen der dritten Corona-Welle ist keine Besserung in Sicht. Müssten Sie nicht mehr tun und das Programm verlängern?

Es gibt noch einige Milliarden, die übrig bleiben. Nicht sehr viele, weniger als zehn. Aber das heißt nicht, dass SURE verlängert werden kann. Dafür müssten wir ein neues Programm auflegen. Aber das ist jetzt nicht in der Diskussion, weil es noch andere Finanzierungsmöglichkeiten gibt.

Home-Office als Pflicht?

Zum Beispiel?

Wir haben React-EU, was auch Möglichkeiten bietet, punktuell weiter in Kurzarbeit zu investieren. Das sind 47,5 Milliarden Euro insgesamt, wovon ein Teil auch für Kurzarbeit gebraucht werden kann. Außerdem haben wir Empfehlungen erlassen, wie Beschäftigungspolitik nach der Krise neu orientiert werden soll. Wir wollen verhindern, dass die Menschen nach der Kurzarbeit in die Arbeitslosigkeit fallen. Das gilt für junge und das gilt auch für weniger junge Arbeitnehmer. Dieses Programm heißt EASE – wir haben es gerade vorgelegt und hoffen, dass es auch über die nationalen Pläne umgesetzt wird.

Wer nicht arbeitslos oder in Kurzarbeit ist, arbeitet derzeit meist im Home-Office. Aber nicht alle Unternehmen wollen das. Sollte es eine Pflicht zur Heimarbeit geben?

Ich würde schon sagen, dort wo es möglich ist, soll das auch betrieben werden. Aber wir müssen auch an die Zeit nach der Pandemie denken. Es wird ja nicht so sein, dass das alles verschwinden wird. Derzeit arbeiten etwa 30-40 Prozent der Menschen im Home-Office. Man kann davon ausgehen, dass auch nach der Pandemie weiterhin mehr Menschen im Home-Office arbeiten als zuvor. Und da werden wir wahrscheinlich sehen, dass die meisten Menschen nicht dafür sind, ausschließlich im Home-Office zu sein. Wir brauchen auch den Kontakt und die Möglichkeit von Austausch. Das muss betrieblich festgelegt werden – von den Sozialpartnern.

Warum ergreifen Sie nicht selbst die Initiative?

Es gibt im Bereich Home-Office ein Abkommen zwischen den Sozialpartnern von 2002. Ich habe die Sozialpartner aufgefordert, sich dieses Abkommen einmal genau anzusehen. 2002, das war eigentlich der Anfang von Home-Office. Heute sind wir aber in einem ganz anderen Kontext. Und ich wäre eigentlich ganz froh, dass die Sozialpartner hier europaweit eine Initiative ergreifen und die Richtlinien festlegen.

Wie steht es mit der Mobilität in der Corona-Krise? Sie als Luxemburger sind da ja besonders sensibel. Grenzüberschreitendes Arbeiten wird gerade von Deutschland massiv eingeschränkt. Warum schreiten Sie nicht ein?

Die Kommission hat versucht, hier Ordnung zu schaffen. Bei den grenzüberschreitenden Arbeitnehmern ist uns dies auch weitgehend gelungen. Wir haben sehr stark darauf gepocht, dass die Grenzgänger zu ihren Arbeitsplätzen über die Grenze fahren können. Und natürlich werden wir weiter daran arbeiten, dass wir hier nicht Rückschritte bei der Freizügigkeit haben, die natürlich nicht nur soziale, sondern auch wirtschaftliche Konsequenzen hätten, ohne dass sie aber fundamental die Gesundheitssituation verbessern würden. Also hier ist die Kommission für Mobilität und ein Minimum an Einschränkungen. Ganz klar.

Miserable Arbeitsbedingungen

Umfragen zeigen, dass die Menschen mehrheitlich für ein soziales Europa sind. Doch in der Praxis ist davon noch nicht viel zu sehen. Was tun Sie, um die „Säule sozialer Rechte“ umzusetzen, die schon 2017 angekündigt wurde?

Wir sind ja erst 18 Monate im Amt. Wir haben im Sozialbereich schon eine ganze Reihe von Initiativen genommen und einige stehen an. Eine sehr starke Initiative ist der Vorschlag über Mindestlöhne. Das hätte eigentlich vor einigen Jahren keiner für möglich gehalten. Wir haben hier einen Paradigmenwechsel vorgenommen, indem wir hingehen und sagen, wir müssen dafür sorgen, dass es bessere Mindestlöhne in vielen Ländern der Europäischen Union gibt. Dass wir Angleichung haben, dass wir Konvergenz haben, dass wir mehr Sozialdialog, mehr Tarifpolitik in Europa bekommen.

Es kann nicht sein, dass wir von der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts reden, wenn wir über Plattformen reden. Und die sozialen Bedingungen sind die des 19. Jahrhunderts noch vor Bismarck.

Die Corona-Krise hat zu einem Boom der sogenannten Plattform-Arbeiter geführt – von den Pizza-Lieferanten bis hin zu den UBER-Fahrern. Viele klagen über miserable Arbeitsbedingungen. Aus Brüssel hört man dazu bisher wenig – was wollen Sie tun?

Wir wollen dafür sorgen, dass diese Plattformökonomie, die weit mehr ist als UBER und der Pizzaservice, sozial reguliert wird. Diese oft jungen Menschen haben keine Sicherheiten, keine Mindestlöhne, keine Ansprüche, wenn sie einen Unfall haben, keine Ansprüche auf Gesundheitsvorsorge und so weiter und so fort. Denn sie werden als self-employed – als sogenannte Selbstständige – angesehen. Doch die Gerichte in vielen Ländern sehen das anders. Das letzte Land, in dem ein solches Urteil gefällt wurde, war Großbritannien. Die englische Regierung hat jetzt gehandelt, sie hat einige Maßnahmen umgesetzt, um diesen Plattform-Arbeitern auch gewisse soziale Garantien zu geben. In Spanien hat die Regierung ebenfalls gehandelt.

Und was macht die EU-Kommission?

Wir haben letzten Monat eine erste Konsultation der Sozialpartner zu diesem Thema lanciert. Wir glauben, dass wir nicht in Europa eine Situation haben können, wo in einigen Ländern die Plattform-Arbeiter eine gewisse Garantie haben, in anderen Ländern aber nicht. Wir brauchen da ein Level Playing Field. Das ist nicht nur sozial wichtig, sondern auch für faire Wettbewerbsbedingungen. Wir werden voraussichtlich Ende dieses Jahres Vorschläge präsentieren.

Gibt es Widerstände?

Natürlich gibt es einige, die sich dagegen sträuben und glauben, dass die momentane Situation zufriedenstellend ist, das weiß ich. Aber die Realität sagt etwas anderes. Es kann nicht sein, dass wir von der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts reden, wenn wir über Plattformen reden. Und die sozialen Bedingungen sind die des 19. Jahrhunderts noch vor Bismarck. So geht das nicht.

Blücher
7. April 2021 - 11.15

Nicht nur die Sozialpolitik entspricht der Zeit von Bismarck, auch die Politik übernimmt immer mehr Attitüden dieser Zeit.Allerdings betrachte ich das politische Werkeln des Herrn Schmit , seiner Partei über Jahre in Regierungsverantwortung , der Politik im Allgemeinen hätten diese längst Remedur schaffen können. „Wenn man sagt,dass man einer Sache grundsätzlich zustimmt, bedeutet das, dass man nicht die Absicht hat , sie in der Praxis durchzuführen.“ ( Bismarck)