LebensmittelpolitikErnährungsrat im Saarland: „Wir wollen die Augen öffnen“

Lebensmittelpolitik / Ernährungsrat im Saarland: „Wir wollen die Augen öffnen“
Viele wollen Erdbeeren auch im Winter essen. Diese kommen oft aus Spanien. Das Land verzeichnet nach Angaben des Statistikportals Statista EU-weit die höchsten Erntemengen. 2020 kamen etwa 272.550 Tonnen Erdbeeren von dort. Hauptanbaugebiet ist die Provinz Huelva im Südwesten Andalusiens. Von dort stammen auch die meisten der 1.100 Tonnen Bio-Erdbeeren, wie das Fachmagazin der Biowirtschaft „Schrot & Korn“ berichtet. Erntezeit ist vom 1. Januar bis zum 30. Juni. Die Situation der Erntehelfer ist in den Medien mehrmals angeprangert worden.   Foto: Editpress-Archiv 

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Das Saarland liegt deutschlandweit vorne, wenn es ums Übergewicht geht. Allein das ist schon ein Grund, das Ernährungssystem und die Essgewohnheiten infrage zu stellen. Ernährungsräte wollen Alternativen aufzeigen. In Luxemburg ist ein Gesetz dazu auf dem Weg. Im Saarland steckt es noch in den Kinderschuhen.

Mal schnell zwischen zwei Terminen noch was zu essen gekauft und genauso schnell heruntergeschlungen, das ist im Alltag keine Seltenheit. Was dann gekauft und gegessen wird, wird nicht so genau betrachtet. Hauptsache, es stillt den Hunger und rüstet für die nächste Aufgabe. „Viele setzen sich heute nicht mehr mit Lebensmitteln auseinander“, bestätigt Philipp Jochum (37).

Der Lebensmitteltechniker mit einem Master in Lebensmittelwirtschaft zum Thema „Nachhaltige Verpackungen“ ist einer der Initiatoren des saarländischen Ernährungsrates. Er weiß um die vielen Widersprüche beim Thema Essen, Konsumverhalten und Politik. Sie beginnen schon beim Angebot.

Essgewohnheiten werden früh erlernt

Einerseits stehen heute mehr qualitativ hochwertige Nahrungsmittel als jemals zuvor zur Verfügung. Discounter führen inzwischen Marken mit Biosiegel. In Lidl-Filialen, von denen es elf im Land gibt, stehen sogar Bioland-Erzeugnisse im Regal. „Es wird aber nicht genug genutzt“, sagt Jochum. „Im Zweifelsfall wird das billige Fleisch gekauft, obwohl viele bessere Haltung und mehr Tierwohl wollen.“ Essgewohnheiten werden als Kind von den Eltern erlernt und bleiben erfahrungsgemäß ein Leben lang gleich.

Genau hier will der Ernährungsrat im Saarland einen seiner Schwerpunkte setzen. Initiator Jochum arbeitet als Regionalkoordinator für das Saarland bei der „Acker e.V.“, einem Verein mit Sitz in Berlin. Er entwickelt Bildungsprogramme für Kinder zwischen sechs und 12 Jahren. Die Idee dahinter: die Kinder kommen nicht zum Acker, sondern der Acker zu ihnen.

Er kommt dahin, wo sie außerhalb der Ferien die meiste Zeit verbringen. „Acker“ legt in Kindertagesstätten und Schulen Gärten mit den Kindern an und ist als Start-up bereits ausgezeichnet. Bislang betreut Jochum fünf  Bildungseinrichtungen im Saarland. Bis 2022 sollen es rund zehn sein. „Genau dort wollen wir als Ernährungsrat ansetzen“, sagt Jochum. „Die Hoffnung ist, über die Kinder auch die Eltern zu erreichen.“

Aufklärung ist ein weiteres Ziel des 2018 gegründeten Ernährungsrates im Nachbarland. In der Satzung ist Sensibilisierung ausdrücklich verankert. „Es geht uns darum, den Menschen klarzumachen, was es heißt, im Winter Erdbeeren essen zu wollen“, sagt Jochum. „Wir wollen die Augen öffnen.“ Deshalb spielt „lokal produziert“ eine große Rolle nicht nur für die Ernährungsräte. Viele Konsumenten wollen das mittlerweile. 

Erdbeeren im Winter konkurrieren mit saisonalen Produkten

„Das unterstützt die Erzeuger vor Ort und schafft kürzere Transportwege“, sagt Jochum. Überzeugungen wie diese werden auch in Luxemburg geteilt. Eine aktuelle Plattform mit regionalen Erzeugern gibt es im Saarland nicht. Das bestätigt die im saarländischen Ministerium für Umwelt und Verbraucherschutz angesiedelte „Vernetzungsstelle Kita- und Schulverpflegung“.

„Wir nehmen aber gerade einen neuen Anlauf, um Landwirte und Kita- und Schulverpfleger zusammenzubringen“, sagt Christoph Bier (48). Das passiert zusammen mit Partnerregionen aus der Großregion und soll grenzüberschreitend sein. Der Diplom-Ökotrophologe leitet nicht nur die Vernetzungsstelle, sondern auch das Referat Ernährung im Ministerium. Ziel der Vernetzungsstelle ist genau wie beim Ernährungsrat vor allem „Ernährungsbildung“.

Sie soll theoretisch im Lehrplan des Unterrichts stattfinden und sich in dem wiederfinden, was mittags in Schulkantinen auf den Teller kommt. „Wenn Schüler im Unterricht lernen, was qualitativ gute Ernährung ist, und mittags in der Kantine anders essen müssen, läuft etwas schief“, sagt Bier. Wissenschaftlich fundierte Daten zu einer qualitativ hochwertigen Ernährung liefern die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).

Saarland ist Spitzenreiter in Sachen Übergewicht

Sie sind im Saarland, das als erstes Bundesland die Qualitätsstandards verbindlich eingeführt hat, seit 2013 an allen Ganztagsschulen verbindlich. Ein Beispiel: In der jüngsten Fassung, die ab Februar 2022 im Saarland gilt, ist „maximal“ ein Mal pro Woche Fleisch als Standard vorgesehen. Wie wichtig die Essgewohnheiten sind, zeigt sich noch an anderer Stelle. Das Saarland rangiert im bundesweiten Vergleich unter den Spitzenreitern bei übergewichtigen Menschen.

Das belegen die letzten verfügbaren Zahlen einer bundesweiten Befragung von 20.000 deutschsprachigen Einwohnern in der BRD aus dem Jahr 2008. Das Max Rubner-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, hat die Bürger zwischen 14 und 80 Jahren befragt, gewogen und gemessen. Demnach sind im Saarland 61,7 Prozent der Männer und 60,1 Prozent der Frauen übergewichtig oder adipös. Allein das ist schon ein Grund, sich mit Ernährung zu beschäftigen und andere Wege zu suchen.

Im Saarland ist dem Ernährungsrat allerdings die Pandemie in die Quere gekommen. Als Verein gegründet, was in Luxemburg einer ASBL entspricht, ist er seit seiner Gründung 2018 nicht über zehn Mitglieder angewachsen. An öffentliche Auftritte, um für die Idee zu werben, war nicht zu denken. Wohl auch deshalb steckt er immer noch in den Anfängen. Abgeschrieben ist das Projekt aber nicht.

Im Gegenteil: Im Herbst soll eine „Ideenwerkstatt“ ausloten, was unter den Bedingungen des Ehrenamtes alles möglich ist und was nicht. „Großes entsteht immer im Kleinen.“ Mit diesem Leitspruch empfängt das im Vergleich zu Luxemburg flächenmäßig fast gleich große Nachbarland Neuankömmlinge an den Grenzen. Das lässt hoffen.

Kritik in Luxemburg 

Die Entstehung des Ernährungsrates ist in Luxemburg umstritten. Kritik an Vorgehen und Umsetzung seitens der Politik kommen nicht nur aus der Zivilgesellschaft, von den Initiatoren selbst, sondern zuletzt auch von „Meng Landwirtschaft – Mäi Choix“. Die Nichtregierungsorganisation kämpft für eine öffentliche Debatte über die zukünftige Ausrichtung der luxemburgischen Landwirtschaft und wird von 22 Organisationen aus dem Umfeld des Umweltschutzes getragen. Sie übt harsche Kritik am Gesetz, das den Ernährungsrat in Luxemburg etablieren soll. „Das Landwirtschafts- und Verbraucherministerium haben dem Projekt bereits in seiner Entstehung alle Originalität und Innovation geraubt und sich für eine reduktionistische, unkooperative und zutiefst antidemokratische Form entschieden, die jedem partizipativen und bürgernahen Charakter entbehrt“, heißt es in einer Presseerklärung zum Thema. Sie wurde, nachdem das Gesetz auf den Instanzenweg gebracht wurde, veröffentlicht. Vor allem das Vorgehen der beteiligten Ministerien entrüstet zutiefst. „Da das vom Landwirtschaftsministerium vorgeschlagene Projekt nun eine Einrichtung vorsieht, die unter seiner absoluten Kontrolle steht und keine eigene Initiative ergreifen kann, wird diese Einrichtung nicht in der Lage sein, die erwartete Rolle zu spielen“, heißt es in der Erklärung weiter. Mehr Informationen gibt es unter ernaehrungsrat-saarland.de und gemueseackerdemie.de.