50 Sekunden des Schreckens, 170 Meter unkontrollierte Talfahrt. Dann der Crash mit rund 60 km/h gegen eine Hauswand – das ist die Chronologie der Bahnkatastrophe, die sich am Mittwochabend in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon ereignete. Der Bremser in der Fahrzeugführerkabine tat offenbar alles, was er konnte – doch der Waggon der historischen Standseilbahn „Elevador da Glória” war auf der abschüssigen Strecke nicht mehr zu kontrollieren.
Der am Wochenende veröffentlichte erste offizielle Untersuchungsbericht der portugiesischen Behörde zur Untersuchung von Flug- und Eisenbahnunfällen bestätigte den bereits kursierenden Verdacht: „Das Seil, das die beiden Kabinen verband, gab an seiner Befestigungsstelle im oberen Tragrahmen der Kabine Nr. 1 nach“, heißt es in dem Bericht.
Das bedeutet: Das Seil hat sich dort gelöst, wo es an der oberen Kabine fest verankert war. In dem Moment war Kabine 1 gerade von der oberen Station abgefahren und am Beginn der knapp 300 Meter langen abfallenden Strecke.
Bei normaler Kontrolle nicht erkennbar
Als sich das Seil löste, verlor der Wagen, in dem mehr als 40 Menschen saßen, jede Kontrolle und schoss ungebremst die steile Straße hinunter. Kabine 2, die gleichzeitig an der unteren Station losgefahren war und eigentlich über das beide Wagen verbindende Stahlseil hochgezogen werden sollte, wurde zurückgerissen und kam nach wenigen Metern abrupt zum Stillstand. Die Passagiere im unteren Waggon kamen mit dem Schrecken davon.
Die Stelle, an der das Seil am oberen Wagen nachgab, sei bei einer normalen Sichtkontrolle nicht erkennbar gewesen, heißt es. „Die tägliche Inspektion durch die Wartungsteams konnte diese Schwachstelle nicht entdecken, da dies nur durch eine Demontage sichtbar geworden wäre“, schreibt die Behörde. Am Unglückstag hatte es am Morgen noch eine 30-minütige Routineprüfung gegeben – ohne Befund.
Brisant ist auch die Feststellung der Untersuchungsbehörde zum Bremssystem: Der Fahrer der Unglückskabine Kabine Nr. 1 betätigte sofort sowohl die pneumatische Druckluftbremse als auch die Handbremse. Doch ohne das Gegengewicht des Verbindungskabels fehlte die physikalische Balance. „In der bestehenden Konfiguration haben die Bremsen nicht die Fähigkeit, die Kabinen im Alleingang zu stoppen“, stellt der Bericht klar. Ein Mangel, der kein gutes Licht auf die zuständigen Bahningenieure wirft.
Verantwortung unklar
Alle Bremsversuche des Fahrzeugführers und auch die automatischen Sicherheitssysteme blieben wirkungslos: Der Unglückswagen beschleunigte weiter, bis er 170 Meter später entgleiste, heißt es im Bericht. Der Aufprall gegen ein Gebäude erfolgte demnach „mit einer Geschwindigkeit in der Größenordnung von 60 km/h“, der gesamte Ablauf habe sich „in weniger als 50 Sekunden“ vollzogen – 50 Sekunden des Horrors für die Fahrzeuginsassen.
Beim Unglück starben 16 Menschen, mehr als 20 wurden verletzt, zehn davon schwer. Unter den Toten sind fünf Portugiesen, zwei Südkoreaner, ein Schweizer, drei Briten, zwei Kanadier, ein Ukrainer, ein US-Amerikaner und ein Franzose.
Unter den Verletzten befinden sich ebenfalls ein Schweizer Bürger und eine dreiköpfige deutsche Familie. Der 44-jährige deutsche Familienvater war zunächst von den Behörden mit einem Briten verwechselt und für tot erklärt worden. Später wurde er jedoch in einem Krankenhaus identifiziert, wo er mit schweren Verletzungen lag. Die Mutter der Familie befindet sich ebenfalls im Hospital, der dreijährige Sohn konnte inzwischen entlassen und Angehörigen übergeben werden.
In den kommenden 45 Tagen will die staatliche Untersuchungsbehörde einen ausführlicheren Zwischenbericht vorlegen, die endgültigen Ermittlungsergebnisse werden frühestens in einem Jahr erwartet. Zugleich ist noch immer unklar, welche staatliche Stelle eigentlich für die Aufsicht über die historische Standseilbahn verantwortlich ist. Offenbar will nun keine Behörde die Verantwortung dafür übernehmen, dass bei der Kontrolle und Überwachung der Bahnanlage möglicherweise geschlampt wurde.
Am Wochenende herrschte an der Unglücksstelle im Lissabonner Zentrum in der Straße Calçada da Glória eine bedrückende Stille: Passanten legten Blumen, Kerzen und handgeschriebene Botschaften nieder: „Lissabon weint“, steht auf einem Zettel. Besonders ins Auge sticht ein Blumengesteck, über dem ein roter Herz-Luftballon im leichten Wind schwebt – ein Symbol für die 16 Menschenleben, die an einem Septemberabend in Lissabon ausgelöscht wurden.
De Maart
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