Es war ein Ritual. Als die Revue ihren Sitz in der hauptstädtischen rue Dicks noch gegenüber der Garer Kirche hatte, machte Thierry Martin morgens seine Runde durch die verschiedenen Abteilungen und begrüßte die Kollegen einzeln. An jedem Tag ging er von einem zum anderen und gab ihnen die Hand, begleitet von einem „Salut“ und mit einem auf den ersten Blick ernsten Gesicht, in dem jedoch fast unmerklich ein mildes Lächeln zum Vorschein kam. Leicht war seine Miene nicht zu entschlüsseln. Doch je länger man ihn kannte, desto besser wusste man sie zu deuten. Thierry war ein Mensch der Nuancen, auch was seine Fotografie anging, und einer des Understatements, was seine Bescheidenheit betraf. So wie die Routine der morgendlichen Begrüßung, von der er niemals eine Ausnahme machte, ein Zeichen der Wertschätzung gegenüber seinen Kollegen bedeutete, war auch die Gewissheit, mit der man sich auf Thierry verlassen konnte, eine Beständigkeit. Er war immer da, wenn man ihn brauchte, die Zuverlässigkeit in Person.

Mehr als zehn Jahre sind seitdem vergangen. Die Revue zog aus der Hauptstadt weg, und Thierry ging in Pension. Noch länger ist es her, dass Thierry täglich mit einer Krawatte zur Arbeit kam, vorbereitet für jeden Einsatz im Auftrag des Magazins. Als er nach einigen Jahren nicht mehr mit Schlips in die Redaktion kam, war dies bereits ein Maximum an Anpassung an die veränderten Kleiderordnungen. Thierry wahrte dennoch die Form und seine guten Manieren und erschien dabei wie etwas aus der Zeit gefallen. Er pflegte seine äußere Erscheinung genauso wie seine Gewohnheiten und gab einem dabei das Gefühl von Kontinuität. Die meisten Menschen, die er fotografierte, kannten ihn über die Jahre als Revue-Fotografen: ob Monarchen oder Premierminister, Politiker oder andere Personen des öffentlichen Lebens, prominente oder weniger prominente. Thierry machte keinen Unterschied, seine Höflichkeit galt allen. Eine Form des Anstands.
Pflichtbewusst und stets einsatzbereit, vertrat Thierry die Revue, war ihre personifizierte Visitenkarte und stets zuvorkommend. In seiner Arbeit war er Vollprofi, sein fotografischer Blick neutral und nüchtern, realistisch und unprätentiös. Seit Anfang der 80er Jahre war er für das „Magazin fir Lëtzebuerg“ tätig. Der am 16. Januar 1949 geborene Fotograf aus Paris, der einst den Militärdienst bei den Gebirgsjägern und Fallschirmspringern absolviert hatte, fing bei Paris Match an, anfangs arbeitete er noch im Vertrieb und Marketing der berühmten Illustrierten, mit der er das Geburtsjahr teilte – bis das Blatt eines Tages einen Fotografen suchte, Thierry die Chance ergriff und sein Talent unter Beweis stellte. Seit dieser Zeit war der Fotoapparat sein verlängerter Arm.
Der Liebe wegen nach Luxemburg

Der Liebe wegen kam Thierry ins Großherzogtum, nachdem er bei einem Militärmarsch in der Nähe von Diekirch seine spätere Frau kennengelernt hatte. Er arbeitete u.a. für den Républicain Lorrain und pendelte, wie mir erzählte wurde, eine Zeit lang von seinem Wohnort Vianden bis nach Nancy zur Redaktion der Zeitung. Bis er zur Revue ging, für die er – zuerst als freier Mitarbeiter und dann fest angestellt – bis über seine Pension hinaus tätig war. In diesen mehr als 35 Jahren dürfte es wohl kaum eine Ausgabe der Revue – der zuvor große Fotografen wie Pol Aschman (1921-1990) und Jochen Herling (1943-2021) ihren Stempel aufgedrückt hatten – gegeben haben, die ohne Fotos von Thierry auskam. Den ältesten Sohn Gilles, 1980 geboren, nahm er sogar auf Fototermine mit, als dieser noch ein Baby war. „Ich weiß noch, wie es war, als mein Vater abends nach Hause kam und noch Fotos entwickelte“, sagt Gilles, „und ich kann mich noch gut an den Geruch der Entwicklerflüssigkeit erinnern.“
Als ich 2005 bei der Revue anfing, hatten die Fotografen im dritten Stock des altehrwürdigen Gebäudes in der rue Dicks ihr Refugium: Neben Thierry waren dies die nicht minder erfahrene und routinierte Ute Metzger und der deutlich jüngere Patrick Galbats. Betrat man den Raum, erkannte man Thierry nicht sofort: Vor sich hatte er eine Menge Zeitungen und Zeitschriften gestapelt. Hinter ihm befand sich eine imposante Wand aus CDs mit gescannten Fotos, ein wahrhaft archivarischer Schatz. Wer eine Aufnahme suchte, ging zu Thierry, der schnell fündig wurde.
Zahllose Interviewtermine habe ich mit Thierry wahrgenommen, oft führten uns die Reportagen auf Reisen ins Ausland. Was an meinem französischen Reisegefährten auffiel, war seine unerschütterliche Diskretion, ebenso der Ernst und die Gewissenhaftigkeit, mit denen er ans Werk ging. Thierry bewahrte immer die Ruhe, nichts schien ihn umzuhauen. Selbst im größten Trubel blieb er ein Fels in der Brandung, ob inmitten gewaltsamer Proteste von Stahlarbeitern am Rosengärtchen oder bei Monarchen-Hochzeiten. Für einen Einsatz beim City-Marathon kam er einmal zu mir, um sich mein Fahrrad auszuleihen. Er machte eine Probefahrt durch Howald – es wäre ein Bild mit Seltenheitswert gewesen. Zu Beginn seiner Karriere hatte der Routinier noch vornehmlich mit Schwarz-Weiß-Fotos gearbeitet, später in Farbe. Schließlich schaffte er um die Jahrtausendwende den reibungslosen Wechsel zur digitalen Fotografie. Ein Hobby von ihm, erzählte man mir, sollen Antiquitäten gewesen sein. Und wie er mir selbst sagte, ging der dreifache Vater – von Gilles und Olivier sowie von Caroline, die nach einem Praktikum bei der Revue später als Fotografin in seine Fußstapfen getreten ist – in seiner Freizeit gerne mit Freunden zum Kegeln.
Gespräche über Filmklassiker

Während der langen Fahrten in seinem in die Jahre gekommenen, leicht verbeulten Renault Megane begann der zurückhaltende, ordnungsbewusste Franzose, der sich stets an Konventionen und Regeln hielt, gegenüber dem gesprächigen und oft improvisierenden Deutschen, der nicht selten dazu neigte, Regeln zu brechen und über die Stränge zu schlagen, nach einiger Zeit aufzutauen, sodass wir über unseren Alltag, tägliche Sorgen und weniger alltägliche Dinge redeten. Dabei kamen das eine oder andere Mal gemeinsame Interessen zur Sprache. Thierry erzählte von seinen Freunden, die er an vielen Orten kannte. Wir tauschten uns aus über die französischen Filmklassiker der 50er und 60er Jahre, die wir schon gesehen hatten, und stellten dabei eine gemeinsame Vorliebe fest, u.a. für die Streifen von Jean-Pierre Melville oder jene mit Lino Ventura wie etwa „Touchez pas au Grisbi“ von Jacques Becker aus dem Jahr 1954. Vor allem von dem mir besonders verehrten Ventura, der oft wortkarge Charaktere mit einer Aura der Melancholie oder notorische Griesgrame mit menschlichem und sensiblem Kern spielte, schien einiges in Thierry zu stecken.
Unvergessen bleiben unsere Fahrten zu Reportagen nach Charleroi und Brüssel ebenso wie nach Zeebrugge, wo wir auf eine Autofähre gingen, um über die luxemburgische Hochseeflotte zu berichten, zu einem Studententreffen nach Straßburg oder nach Besançon, wo wir für ein Stadtporträt ein paar Tage verbrachten. Weit gereist sowie durch und durch Franzose, fühlte er sich in seiner Heimat am wohlsten. Unterwegs blieb Thierry stets sich selbst im Restaurant treu: Er aß im elsässischen Landgasthof ebenso wie im flämischen Fischlokal sein Steak Tatar. Thierry blieb Thierry. Auf den ersten Eindruck war er altmodisch, aber mehr noch zeitlosen Werten verhaftet.
Der Revue blieb er noch im Ruhestand einige Zeit als People-Fotograf verbunden, der akkurat die Namen der von ihm abgelichteten Personen notierte, was ihm bei manchen den Beinamen „Monsieur People“ einbrachte. Danach verloren wir den Kontakt zueinander. Einmal vor nunmehr knapp zwei Jahren erhielt ich noch spätabends per SMS einen Neujahrswunsch. Damals musste er schon an Krebs erkrankt gewesen sein. Er hatte mich nicht vergessen. Thierry, der Zuverlässige, der Unvergessliche, ist am 11. Oktober verstorben. Mit seinen Bildern hat er sich in der Geschichte der Luxemburger verewigt, er selbst wird vielen für immer in Erinnerung bleiben.
De Maart

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