AustralienEpidemie „Schulverweigerung“: Die kranken Kinder von Melbourne

Australien / Epidemie „Schulverweigerung“: Die kranken Kinder von Melbourne
262 Tage, verteilt über 20 Monate, verbrachten die Einwohner von Melbourne während der Hochphase der Pandemie im Lockdown Foto: Unsplash/Mitchell Luo

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262 Tage – verteilt über 20 Monate – verbrachten die Bewohnerinnen und Bewohner von Melbourne während der Hochphase der Pandemie im Lockdown. Die australische Stadt rettete mit ihren strengen Restriktionen tausenden Menschen das Leben, doch die Maßnahmen haben die Stadt zum Epizentrum einer neuen Erkrankung werden lassen.

Melbourne hatte während der Corona-Pandemie den längsten und einen der strengsten Lockdowns der Welt. Dadurch konnten unzählige Menschenleben gerettet werden. Doch die strengen Restriktionen – die Einwohnerinnen und Einwohner durften ihre Häuser nur aus „essenziellem Grund“ verlassen und mussten einen Fünf-Kilometer-Radius und nächtliche Ausgangssperren einhalten – haben bis heute Auswirkungen auf einen Teil der Bevölkerung. So berichtete der australische Sender Channel 9 in seiner Sendung „Sixty Minutes“, dass eine ganze Generation von Schulkindern inzwischen „zu ängstlich“ sei, nach draußen zu gehen.

Nach dem Bericht ist Melbourne inzwischen zum Epizentrum einer neuen Erkrankung geworden, die als „Schulverweigerung“ bekannt ist. Für die Dokumentation wurden verschiedene Teenager interviewt, die allesamt berichteten, dass sie nicht den Wunsch nach Bildung verloren hätten, dass sie aber eine „überwältigende Angst“ verspüren und sich deswegen weigern würden, zur Schule zu gehen.

Schwach, krank und zittrig

Die Zehntklässlerin Sarah Turner berichtete, dass sie ihre Schule früher liebte. „Ich war sehr kontaktfreudig und habe vor den Lockdowns viele Dinge gemacht“, sagte sie. Erst mit den Lockdowns, in denen sie viel zu Hause gewesen sei, habe sie plötzlich nicht mehr rausgehen wollen. Vielmehr habe sie sogar große Angst davor bekommen, nach draußen zu gehen.

Es würde sich so anfühlen, als wäre es „irgendwie unmöglich, zur Schule zu gehen“. Sie könne dieser Angst körperlich nicht standhalten, fühle sich schwach, krank und zittrig. „Mein Herz rast“, berichtete sie. „An manchen meiner schwersten Tage hatte ich den ganzen Morgen über Panikattacken und konnte mich nicht bewegen.“ Auch an Tagen, an denen sie mit dem Auto zur Schule gebracht werde, könne sie manchmal nicht aussteigen oder sie steige aus und fühle sich dann „wie erstarrt“. Ihre Angstattacken sind so schlimm, dass die 16-Jährige in den letzten zwei Jahren rund die Hälfte der Schulzeit verpasst hat.

Kinder und Jugendliche mit Selbstmordgedanken

John Chellew, ein Sozialarbeiter, der sich mit der psychischen Gesundheit von Kindern beschäftigt, war in seiner Klinik noch nie so ausgebucht wie seit der Pandemie. „Ich habe es mit Kindern zu tun, die weitgehend verschlossen und in den Streik getreten sind“, sagte er. Die Kinder würden sich in ihren Schlafzimmern einsperren und es würden zu Hause massive Konflikte herrschen.

Viele seien sogar voller verzweifelter Gedanken. „Kinder haben den Willen zum Leben verloren und drohen wirklich, ihrem Leben ein Ende zu setzen“, sagte Chellew. Der Experte konnte bisher keine sich wiederholenden Merkmale erkennen, warum ein Kind von der Erkrankung betroffen ist. Es sei ein Problem, das Schulkinder im Alter von fünf bis 17 Jahren treffen könne und dabei Kinder aus allen Gesellschaftsschichten und mit neurodiversem und neurotypischem Hintergrund.

Vollzeitjob Mutter

Auch der 13-jährige Gabby aus Melbourne kann – ähnlich wie Sarah Turner – den Gedanken, zur Schule zu gehen, oft einfach nicht ertragen. Für seine Eltern ist die Erkrankung eine große Herausforderung. So berichteten sie in der Sendung, wie Gabby manchmal auf dem Weg zur Schule im Auto mit dem Kopf gegen den Sitz stoße und wie schwierig das dann auch für sie sei. Und obwohl Gabby sein Bestes versucht, seine Schulaufgaben von zu Hause aus zu erledigen, hat sich die Erkrankung inzwischen auf seine Noten ausgewirkt.

Sarahs Mutter hingegen ist erleichtert, dass inzwischen zumindest offen über die Erkrankung gesprochen wird und „Schulverweigerung“ nicht mehr länger als erfundenes Problem behandelt wird. Für sie war die Behandlung ihrer Tochter zwischenzeitlich zu einem Vollzeitjob geworden, berichtete die Australierin. „Ich war praktisch rund um die Uhr für sie da und war nicht nur ihre normale Mutter, sondern war manchmal auch so etwas wie ein Mentalcoach für sie.“ Viele Menschen hätten es nicht verstanden, dass sie Sarah nicht einfach am Schultor absetzen und wegfahren könne.

Hat nichts mit schlechter Erziehung zu tun

Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, deren Angst so groß ist, dass sie nicht zur Schule gehen können, ist in Australien in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Schätzungen zufolge ist jede dritte Familie mit schulpflichtigen Kindern davon betroffen. Eine aktuelle Untersuchung, die die australische Grünen-Senatorin Penny Allman-Payne leitet, will die Krankheit „Schulverweigerung“ nun offiziell anerkennen lassen und Empfehlungen an die Regierung geben, wie das Problem angegangen werden könne. Die Politikerin, die vor ihrem Eintritt in die Politik 30 Jahre lang als Lehrerin tätig war, betonte, dass die Erkrankung nichts mit „schlechter Erziehung“ zu tun habe. Es sei nicht so, dass ein junger Mensch zu viel soziale Medien oder ähnliches schaue. „Es ist ein systemisches Problem“, meinte Allman-Payne.

Eine Studie, die im Juli in der National Library of Medicine veröffentlicht wurde, beschäftigte sich ebenfalls mit den psychologischen Auswirkungen von Covid-19 und den australischen Lockdown-Beschränkungen auf Kinder. Die Eltern, die für diese Studie befragt wurden, berichteten von erhöhter Hyperaktivität, Unruhe, Unaufmerksamkeit, Wut, Angst und Reizbarkeit bei ihren Kindern. Australische Jugendliche sagten im Rahmen dieser Studie, dass sie seit Beginn der Pandemie unter einer schlechteren psychischen Gesundheit wie beispielsweise Angstzuständen und Depressionen gelitten hätten. Dies wiederum habe negative Auswirkungen auf ihre Beziehungen mit Gleichaltrigen, auf ihre schulischen Ergebnisse und familiären Beziehungen.