Mittwoch5. November 2025

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StandpunktEntscheidungsfindung inmitten des Chaos 

Standpunkt / Entscheidungsfindung inmitten des Chaos 
Analyseinstrumente regelmäßig zu aktualisieren ist im Zeitalter der KI noch dringlicher Foto: Editpress-Archiv/Oliver Berg/dpa

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Wir sind in wirtschaftlicher, geopolitischer und sozialer Hinsicht mit größerer Unsicherheit konfrontiert als jemals zuvor in der jüngeren Vergangenheit. Unter diesen Umständen ist es für Unternehmenschefs, Führungskräfte in der Politik, Investoren und andere Entscheidungsträger von zentraler Bedeutung, auf ein breiteres Spektrum an Datenquellen zurückzugreifen und eine größere Anzahl von Signalen unterschiedlicher Qualität und Zuverlässigkeit zu sichten.

Darüber hinaus sind sie gezwungen, dies in einer Welt zu tun, die mit den Auswirkungen von Deglobalisierung, verschärften internationalen Spannungen und rasanten technologischen Entwicklungen wie der Verbreitung künstlicher Intelligenz konfrontiert ist. In diesen und anderen Bereichen agieren Privatpersonen und Unternehmen, deren Aktivitäten Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft haben können, ohne nennenswerte Regulierung oder Aufsicht.

Aus diesem Grund müssen Entscheidungsträger eine Vielzahl an Risiken berücksichtigen. Angesichts der Überforderung aufgrund der schieren Menge an Daten und der tiefgreifenden Unsicherheit von heute könnten sie einfach untätig bleiben, doch auch das ist eine Entscheidung mit potenziell erheblichen Konsequenzen.

Wer große Organisationen leitet oder politische Entscheidungen trifft, muss sich außerdem davor hüten, sich auf Daten oder Modelle zu verlassen, in denen die sich wandelnden makroökonomischen, geopolitischen und marktwirtschaftlichen Dynamiken nicht angemessen berücksichtigt werden. Schlechte Entscheidungsfindung, Fehlallokationen von Vermögenswerten oder falsche Politik präsentieren sich derzeit angesichts offenbar erhöhter Tail-Risiken besonders beunruhigend. Unter derartigen Bedingungen dürften die Kosten einer falschen Entscheidung erheblich steigen.

Problem richtig einordnen

Entscheidungen erfordern die korrekte Einordnung des Problems, eine Bestandsaufnahme der Situation, die entsprechende Aktualisierung von Daten und Informationsquellen sowie die Festlegung eines Modells zur Bewertung konkurrierender Handlungsoptionen. Jede Phase dieses Ablaufs – von dem Militärstrategen John Boyd als OODA-Schleife („beobachten, orientieren, entscheiden, handeln“) bezeichnet – muss ständig überprüft werden, um strukturellen Veränderungen Rechnung zu tragen.

Das Problem richtig einzuordnen heißt, das übergeordnete Ziel klar zu definieren. Ein Unternehmen will Gewinn und Shareholder-Value maximieren, genauso wie es einem Politiker oder einer Politikerin darum geht, den Lebensstandard der Bürger zu maximieren. In beiden Fällen gilt es, Bereiche zu identifizieren, die man tatsächlich beeinflussen kann und sich auf diese zu konzentrieren, wie zum Beispiel auf den Einsatz von Ressourcen, auf Prioritäten der Kostensenkung oder die allgemeine strategische Ausrichtung (zum Beispiel die Frage, in welchen Regionen man tätig sein sollte).

Die zweite Aufgabe besteht darin, Dynamiken zu erkennen, die die Rahmenbedingungen festlegen. Die Covid-19-Pandemie hat deutlich werden lassen, dass eine Situation weitaus komplexer sein kann, als zunächst angenommen. Was ursprünglich als ein Problem mit einem festen Zeithorizont angesehen wurde – als Gesundheitsproblem, das innerhalb eines Jahres nach der Einführung eines Impfstoffs gelöst sein würde –, erwies sich bald als Multiplayer-Problem mit sich verschiebenden Zeithorizonten. Von der öffentlichen Gesundheit und der Wirtschaft bis hin zum Bildungs- und Sozialwesen – die Pandemie wirkte sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens aus. Fünf Jahre später hat die Welt immer noch mit pandemiebedingten Problemen zu kämpfen, darunter hohe Staatsverschuldung, psychische Erkrankungen und geringere Bildungsabschlüsse.

Trend zur Deglobalisierung

Unterdessen setzt sich der Trend zur Deglobalisierung fort und verändert das Umfeld für weltweit tätige Unternehmen. Konzernchefs müssen sich nun überlegen, wie sie ihre finanziellen Erträge in einer stärker segmentierten Welt maximieren können, in der die Säulen der globalisierten Wirtschaft – der freie grenzüberschreitende Waren-, Kapital- und Arbeitskräfteverkehr sowie die multilaterale Governance – ausgehöhlt oder sogar zerstört werden.

Unter diesen Umständen werden viele etablierte Geschäftsmodelle riskanter oder gar obsolet. Man kann nicht mehr davon ausgehen, dass man internationale Fachkräfte einstellen, globale Beschaffungszentren unterhalten, in London und New York günstig Kredite aufnehmen oder in Schwellenländer investieren und die Erträge zurückführen kann.

Drittens gilt es für alle Führungskräfte, ihre Analyseinstrumente regelmäßig zu aktualisieren. Diese Notwendigkeit ist im Zeitalter der KI noch dringlicher. Dabei geht es nicht nur darum, Breite und Tiefe der Informationsquellen neu zu bewerten, sondern auch um Fragen der Datenqualität. Das schiere Ausmaß und die Komplexität KI-gestützter Analysen bedeuten, dass Entscheiderinnen und Entscheider die OODA-Schleife viel schneller durchlaufen können und sollten, beispielsweise bei der Bewertung einer potenziellen Investition in einem neuen Land oder bei der Prüfung der Durchführbarkeit einer politischen Maßnahme.

Konkurrierende Optionen bewerten

Schließlich ist es von zentraler Bedeutung, wie im Rahmen der Entscheidungsfindung konkurrierende Optionen bewertet werden. Viele Institutionen nutzen Strategien zur Risikominderung, um festzulegen, wie sie ihre Ressourcenallokation gestalten sollten. Dabei lassen sie sich möglicherweise von klaren regulatorischen Vorgaben oder von ihrer eigenen Einschätzung des Investitionsrisikos unter zunehmend unsicheren Bedingungen leiten. Folglich setzen Aufsichtsräte diese Strategien häufiger ein, um den Wert ihrer Assets zu schützen und Investitions- sowie Kapitalausgabenpläne anzupassen, wobei sie möglicherweise Rücklagen für Notfälle bilden, wenn das operative Umfeld volatiler wird.

In ähnlicher Weise bedienen sich Anleger an den Finanzmärkten häufig des Kelly-Kriteriums (einer Formel aus der Wahrscheinlichkeitstheorie), um die optimale Anlage oder Investition zur Maximierung des langfristigen Vermögenswachstums zu ermitteln. Alternativ verringert die Minimum-Maximum-Regret-Theorie (oder Minimax) das maximale potenzielle Bedauern einer Entscheidung. In diesem Fall mindert der Entscheider oder die Entscheiderin den potenziellen Verlust (Bedauern), anstatt zu versuchen, die Rendite angesichts der Unsicherheit zu maximieren.

In der Praxis bieten all diese Methoden eine Möglichkeit, den Erfolg und das Risiko zu quantifizieren, um anschließend den Kompromiss zwischen beiden Größen zu verstehen. In Zeiten zunehmender Unsicherheit sollte man jedoch hinterfragen, ob die gewählte Methode noch relevant oder ideal ist. Entscheider und Entscheiderinnen müssen sich im Klaren darüber sein, dass die Nichtüberprüfung ihrer Abwägung von Optionen – also der Versuch, den Status quo aufrechtzuerhalten – eigene Risiken mit sich bringt.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier. Dambisa Moyo ist internationale Ökonomin und Verfasserin von „Edge of Chaos: Why Democracy Is Failing to Deliver Economic Growth – and How to Fix It“ (Basic Books, 2018). Copyright: Project Syndicate, 2025. www.project-syndicate.org.