„Ich werde nicht schweigen, bis Gerechtigkeit hergestellt ist“, sagt Seker. Sie lebt in einer kleinen Container-Wohnung in Kahramanmaras, wie sie dort vielen Menschen nach dem Erdbeben als Übergangsunterkunft zugewiesen wurde. Ihr früherer Wohnblock, die Ebrar-Siedlung aus achtstöckigen Gebäuden, war bei dem Erdbeben am 6. Februar 2023 eingestürzt. Allein dort starben etwa 1.400 Menschen.
Seker zog damals die Leichen ihrer beiden Kinder mit bloßen Händen aus den Trümmern. „Mir wurde die Lebensfreude genommen“, klagt sie unter Tränen. Wegen dieses Traumas habe sie immer wieder daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. „Nur Gerechtigkeit kann mir jetzt Trost geben.“
Bei dem Erdbeben starben in der Türkei laut einer am vergangenen Freitag veröffentlichten neuen Bilanz des Innenministeriums mehr als 53.500 Menschen. Es war die schlimmste Katastrophe seit Jahrhunderten. Staatschef Recep Tayyip Erdogan führte die hohe Opferzahl auf skrupellose Bauunternehmer zurück, die billigen Beton verwendet und grundlegende Bauvorschriften missachtet hätten.
Unmittelbar nach dem Beben wurden mehr als 200 Bauunternehmer festgenommen. Einige von ihnen hatten versucht zu fliehen und waren auf dem Istanbuler Flughafen gefasst worden. Die Anwälte vieler Opferangehöriger fürchten, dass letztlich viele Bauunternehmer davonkommen werden, weil die Beweise für ihren Pfusch am Bau verschwanden, als Bagger die Trümmer wegschaufelten. Gegen die öffentlichen Bediensteten, die die Baugenehmigungen und Sicherheitsinspektionen abgezeichnet hatten, kann derweil nur mit Genehmigung des Innenministeriums ermittelt werden. Und dieses verhält sich auffällig passiv.
Warnungen ignoriert, fahrlässig gehandelt
Die 68-jährige Nebahat Pacala, die bei dem Erdbeben Mann, Tochter und Enkelin verlor, hatte die Bauunternehmer nach eigenen Angaben immer wieder gewarnt, dass sie auf instabilem Grund bauten. Zur Einrichtung eines Gebetsraums hätten sie einfach tragende Säulen entfernt. Die Wände ihrer eigenen Wohnung seien durch einen Wasserschaden aufgequollen. „Aber die Bauunternehmer bedrohten meinen Sohn, als er sie warnte“, sagt Pacala.
Ich werde denjenigen, die meine Familie ermordet haben, niemals verzeihen
Tevfik Tepebasi, einer der Erbauer der Ebrar-Siedlung, argumentierte vor Gericht, er könne nicht eines Verbrechens beschuldigt werden. „Ich weiß gar nichts über das Bauen“, argumentierte er und löste damit in der Türkei Empörung aus. Tepebasi drohen wegen der fahrlässigen Verursachung von Todesfällen und Verletzten bis zu 22 Jahre und sechs Monate Haft.
Laut einem Expertenbericht über eines der eingestürzten Gebäude der Ebrar-Siedlung, welcher der Nachrichtenagentur AFP vorliegt, wurden die Bauvorschriften „nicht ausreichend eingehalten“. Das Gutachten nennt außerdem die zuständigen Stadtratsmitglieder von Kahramanmaras als eine der hauptverantwortlichen Parteien.

Isolierschaum statt Stahlbeton
Zum Ausmaß der Katastrophe hatte Kritikern zufolge auch eine umstrittene Amnestie geführt, die Erdogan 2019 bei einer Versammlung in Kahramanmaras noch in den höchsten Tönen gelobt hatte. Gebäude, die unter Verletzung von Bausicherheitsstandards errichtet wurden, durften einfach stehen bleiben, wenn im Gegenzug eine Einmalzahlung an die Regierung geleistet wurde. Erdogan lobte, dies schaffe allein in Kahramanmaras Platz für zusätzlich 145.000 Menschen.
Nach Angaben von Betroffenen wurde viel Schindluder bei dem Bau von Wohnhäusern getrieben. Die 35-jährige Tuba Erdemoglu deutet vor den Trümmern eines fünfstöckigen Gebäudes auf Bauschaum, der üblicherweise zur Isolierung von Häusern verwendet wird. Aus diesem Schaum statt aus Stahlbeton seien in dem Gebäude tragende Säulen gewesen, sagt Erdemoglu. 44 Menschen starben in dem Haus, darunter ihre Eltern und ihre Schwester.
„Dieses Gebäude stürzte binnen Sekunden ein“, sagt sie. „Überall fiel Schaum wie Schnee herab.“ Erdemoglu fordert, dass für dieses Unglück auch die zuständigen Mitarbeiter der Stadtverwaltung belangt werden. „Ich werde denjenigen, die meine Familie ermordet haben, niemals verzeihen.“ (AFP)
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