Freitag7. November 2025

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ForumEin Hoch auf die Weinbergdebütanten!

Forum / Ein Hoch auf die Weinbergdebütanten!
 Foto: Editpress/Alain Rischard

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Was tun gegen den weltweit galoppierenden Wahnsinn? Haben wir überhaupt noch Handlungsspielraum? Oder müssen wir chancenlos zuschauen, wie alles, was uns lieb und teuer ist, unter die Räder gerät? Sind wir endgültig in einer Abwärtsspirale gefangen, die alles in den Abgrund reißt, was einmal zu den Grundfesten der Demokratie und den Grundwerten des Gemeinwesens gehörte?

Gewiss, man kann die Schotten dichtmachen und sich ins eigene Schneckenhaus verkriechen. Man kann sich in die gehobene Gastronomie stürzen und nur noch der exquisiten Betäubungszauberei der Sterne-Köche auf den Leim gehen. Man kann sich in Büchern vergraben und nur noch lesen, lesen, lesen (regelmäßiger Literaturverzehr ist immerhin eine lohnende Anti-Schmerz-Maßnahme). Man kann sich die Religionsspritze setzen und mit der Droge Gott im Blut himmlisch high werden. Man kann dem lichtertollen Weihnachtsmarktwahnsinn verfallen und in den Glühweinfluten absaufen. Man kann sich mit esoterischem Brimborium eindecken und ein bisschen schnell verdunstende Happiness aus dem Stein schlagen.

Man kann sich einen sündhaft teuren Atombunker bauen und felsenfest darauf vertrauen, ein Krieg mit Nuklearwaffen sei nichts weiter als eine Art vorübergehender Sturm, der eben mal kurz über die Erdoberfläche fegt. Man kann Schamanen anrufen, Vollmondtänze aufführen, im Wald die Bäume umarmen (und von der privaten Trance betört nicht merken, dass sie längst abgestorben sind). Man kann das Kindermachen verweigern, den Wehrdienst ablehnen, die Waffenarsenale sabotieren. Man kann zukunftsblinden Politikern radikal die Gefolgschaft kündigen. Man kann die Konsumideologie mit drastischen Fastenritualen untergraben. Man kann handfest gegen die immer dreisteren Umweltzerstörer aufbegehren. Man kann sich auch vorbeugend das Leben nehmen. Wer wollte sich darüber moralisch entrüsten, wenn es keine verbindliche Moral mehr gibt und auch die allumfassende Entrüstung nicht länger greift? Der Freitod scheint da schon fast ein besonnener Ausweg zu sein.

Oder man bewahrt einen kühlen Kopf und unternimmt mitten in der allgemeinen Unvernunft etwas betont Vernünftiges. Man begibt sich zum Beispiel mit kühner Zuversicht zur freiwilligen Arbeit in einen winterlichen Weinberg. Warum unterwirft sich ein buntes Tageblatt-Team genau dieser Freizeitfron? Warum wollen die Zeitungsmacher partout eine „Domaine Tageblatt“ aus den Moselhängen stampfen? Das wird ein äußerst harter Seelenrettungsversuch. Diese Amateurwinzerlinge werden die volle Härte der Traubenkultur zu spüren bekommen. Mit Corinne Kox, der innovationsfreudigen und erfindungsreichen Remicher Winzerin, haben sie sich die ideale Projektleiterin ausgesucht. Sie wird ihre Azubis ganz sicher nicht schonen. Das Weinbauhandwerk ist kein Spiel für Gesellschaftsmüde, die spontan ihre warmen Redaktionsstuben gegen einen eisigen Rebhang eintauschen möchten.

Doch die Crux wird sich lohnen. Denn was die tageblättrigen Kellereinovizen auf sich nehmen, hat Hand und Fuß. Weil erstens ihr Einsatz meilenweit entfernt vom putzigen Lokalpatriotismus abläuft, der seit jeher die Moselmythologie prägt. Sie haben nichts am Hut mit extrem öchslehaltigen und frömmigkeitstrunkenen CSV-Gewächsen, die bis ins Parlament hinein ihre Blüten treiben. Mehr oder weniger regelmäßig werden diese klerikal überdüngten Pflänzlinge sogar von der Weinwelle in die Regierung hineingeschwemmt. Dort fallen sie allerdings nicht durch Kompetenz auf, sondern glänzen mit demagogischen Kapriolen. Das Arbeitsfeld der Tageblatt-Traubenpfleger hat nichts gemein mit dieser populistisch überhöhten Weinseligkeit. Es wird eher nach Straflager aussehen: Schuften bei jeder Witterung, Ernüchterungen, Rückschläge und Enttäuschungen, vielleicht bares Entsetzen bei der näheren Erkundung der Klimakatastrophe, die sich in den Weinbergen mit immer neuen Veheerungen niederschlägt. Das Tageblatt-Team wird mit Ungeziefer zu kämpfen haben, Krankheitsbefall, Fäulnis, Frostschäden, Pflanzenverkümmerung und Erosion. Wer mit beiden Füßen auf der Weinbergerde steht, also exakt dort, wo der spätere Wein seinen Ursprung nimmt, hat eine dramatischere Perspektive als der Endkonsument, der sich unbekümmert und leichten Herzens frei Haus vom Winzer beliefern lässt oder seine vorzügliche Flasche aus dem Supermarktregal fischt.

Und zweitens weil der fertige Wein, die Zielvorgabe des Tageblatt-Experiments, unzweifelhaft ein Lebenselixier ist. Allen grantigen Abstinenzlern, verblendeten Mineralwasserfanatikern, ärztlichen Mahnern und fabulierenden Gesundheitsgurus zum Trotz verdient es der edle Tropfen, in die Liste der unverzichtbaren und schützenswerten Menschheitserrungenschaften aufgenommen zu werden. One Pättchen a day keeps the Flemm away, wie schon die weinhistorisch sehr bewanderte Philosophin Vittoria Uva anmerkte.

Guy Rewenig ist Schriftsteller. Sein aktuelles Buch im Binsfeld-Verlag heißt „Goss. Roman“.
Guy Rewenig ist Schriftsteller. Sein aktuelles Buch im Binsfeld-Verlag heißt „Goss. Roman“.

Unbedingt durchhalten!, lautet demnach die Parole für die Neo-Winzer. Hoffen wir, dass sie beim Werkeln im Wangert nicht unverhofft heimgesucht werden von einem weinaffinen Polizeiminister aus dem Moselrevier, der hinter jedem Rebstock nach illegalen Heescherten fahndet. Oder sich unbedingt vergewissern möchte, ob die Tageblatt-Kombattant:innen nicht dabei sind, ihre Parzelle zum heimlichen Protektorat für verfemte Obdachlose umzubauen.

Vielleicht kommt ja bei der kollektiven Anstrengung nach anderthalb Jahren ein Wein aus den Fässern, der so gut ist, dass er alle erlittene Unbill sofort aufhebt. Es wäre den Rebstockfreibeutern aus dem Tageblatt zu wünschen. Sie haben eine hervorragende Wahl getroffen. Sie haben der Versuchung widerstanden, die Waffen zu strecken und der grassierenden Verdrossenheit nachzugeben. Dass die von Corinne Kox zur Verfügung gestellte Parzelle ausgerechnet den Ortsnamen „Galgenberg“ trägt, muss kein schlechtes Omen sein. Man kann diesen Katastereintrag auch als Einladung verstehen, sich mit Galgenhumor zu wappnen.