Sonntag21. Dezember 2025

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Deutscher Buchpreis 2025„ë“ von Jehona Kijac, oder: Schreiben gegen das Schweigen

Deutscher Buchpreis 2025 / „ë“ von Jehona Kijac, oder: Schreiben gegen das Schweigen
Diese Bücher sind für den Deutschen Buchpreis 2025 nominiert – in der Mitte: „ë“ von Jehona Kijac Foto: Christof Jakob

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Jehona Kijac schreibt mit „ë“ gegen Traumata, Vorurteile und die Ignoranz gegenüber dem Kosovo-Krieg an und liefert überzeugende semantische Reflexionen. Sie schreibt gegen das Verstummen. Der Roman steht zu Recht auf der diesjährigen Shortlist für den Deutschen Buchpreis, der heute Abend vergeben wird.

Ein Zitat von Elias Canetti ist ihrem Roman vorangestellt. Es ist als Leitmotiv zu verstehen: „In diesen Zerrissenheiten bin ich ganz. Ohne sie wäre ich verstümmelt.“ Die Autorin Jehona Kijac ist 1991 im Kosovo geboren und in Göttingen aufgewachsen. Ihre Geburtsstadt steht serbisch in ihrem deutschen Pass: Suva Reka statt Suharekë. Der Titel ihres Romans, der Buchstabe „ë“, steht symbolisch für die Unterdrückung der albanischen Sprache.

Zähneknirschen

„Anfang der Neunzigerjahre hat die Regierung Serbisch wieder als Staatssprache eingeführt. In den Schulen machten sie es zur Pflicht, nur noch nach dem serbischen Lehrplan zu unterrichten, in dem die albanische Geschichte, Literatur und Sprache keine Rolle spielte. Sie sollte ausgelöscht werden. Wer sich dem verweigerte, wurde suspendiert. Die Albaner haben daraufhin begonnen, einen Schattenstaat aufzubauen“, erfährt man auf den letzten Seiten des Romans. Die Erzählerin, anfangs sprachlos angesichts des Erlebten, schreibt sich mit „ë“ auch raus aus der Stummheit, bevor sie sich förmlich selbst zermalmt. Denn sie, die ebenso als Kind aus dem Kosovo flieht und in Deutschland aufwächst, frisst viel in sich hinein und knirscht so lange mit den Zähnen, bis diese abbrechen.

Das Cover zum Buch
Das Cover zum Buch Copyright: Wallstein

Sie sucht einen Zahnarzt auf – durch die Behandlungstermine stellt sich sukzessive heraus, dass ihr Zähneknirschen und die damit einhergehende Selbstzerstörung eine Folge der erlittenen Kriegstraumata ist: „Ich hätte ihm (dem Zahnarzt) gern erzählt: Neulich habe ich gelesen, man könne den Mund als Gefängnis begreifen.“ „Die Zähne sind die bewaffneten Hüter des Mundes“, hieß es dort, „in diesem Raum ist es wirklich eng, er ist das Urbild aller Gefängnisse.“ Sie hätte sagen wollen, „ich habe die Wörter zu lange gefangen gehalten, und jetzt ist es zu spät“. Als sie „die Knochenfrau“, eine Osteopathin, konsultiert, rät diese ihr, sie müsse verstehen lernen, „warum eine nach außen gewendete Wut nach innen gerichtet wird“. Ihr deutscher Freund attestiert ihr: „Du denkst immer alles zu Ende, bevor du sprichst.“

Schweigen und schreiben zum Überleben

Doch Schweigen erweist sich in Kijacs Roman als Überlebensstrategie. Sie lernte früh, dass sie stumm bleiben musste, sobald sie mit ihrer Familie die serbische Grenze erreichte. Ihre Muttersprache konnte sie in Gefahr bringen. Sobald das erste Schild auf die Grenze verwies, schaltete ihre Familie die Musik aus und versteckte alle Kassetten unter den Autositzen. Frage man sie in Deutschland, woher sie „ursprünglich“ stamme, möchte sie antworten: „Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich komme aus der Sprachlosigkeit.“

Schreiben ist in „ë“ Teil der Emanzipation, die Rückeroberung der eigenen zerrissenen Identität. So erzählt die Ich-Erzählerin von Begebenheiten in der Schule, wo ein Kinderlied in mehreren Sprachen gesungen wurde, das Türkische, „Merhaba, güle güle – guten Tag, auf Wiedersehen“ war die zweite Liedstrophe; bei „Dober dan, dovindenja“, dem als jugoslawisch begriffenen Liedtext, habe man sie angestarrt und erwartet, mitzusingen, doch es war nicht ihre Sprache, denn das Albanische tauchte in der serbokroatischen Liedstrophe nicht auf. Als sie vor der Schulklasse vom Kosovo-Krieg erzählen soll, versagt ihr die Stimme: „Der Ort, an dem die Sprache versiegt, denke ich, daher komme ich also.“

Allein ihrem deutschen Freund Elias gegenüber, der sie im Vergleich zu vielen anderen nicht abstempelt, sondern – wenngleich unbeholfen – ehrliches Interesse aufbringt, vermag sie Ironie aufzubringen. Ihre Muttersprache klinge interessant, sagt er, es seien „so viele Zischlaute darin“. „Im Kosovo gibt es viele Schlangen, vielleicht gibt es da einen Zusammenhang“, entgegnet sie forsch.

Über Vorurteile

Es ist eine Forensikerin, Frau Korner, die in „ë“ schließlich sachlich über die Grausamkeiten im Kosovo-Krieg berichten wird: „Aber die Leichen ähnelten sich sehr: Es waren sehr viele sehr junge und sehr viele sehr alte Tote. Zum anderen waren es äußerst viele Leichen mit Schusswunden im Rücken – diese Wunden erzählten die Geschichten von Menschen, die wegrennen wollten, es aber nicht geschafft haben.“ Kicaj gelingt es nicht nur, über sie, die Kriegsverbrechen, aus einer nüchtern wissenschaftlichen Perspektive wiederzugeben.

Kicaj urteilt nicht vorschnell und zieht keine Schlüsse, sondern beobachtet und stellt gute Fragen. Ihr Roman ist ein Puzzle von Beobachtungen, getrieben von der Suche nach Erkenntnissen, und dürfte im Kampf gegen die eigene Sprachlosigkeit und das Vergessen zugleich ein Stück Selbstheilung sein.
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2025: Jehona Kijac
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2025: Jehona Kijac Copyright: Carl Philipp Roth 

Auch die Vorurteile und den Blick vieler Deutscher gibt sie treffend wieder, etwa, wenn sie schildert, mit welchen Erwartungen zwei sechzigjährige deutsche Männer die Vorlesung über „Die Rolle der forensischen Anthropologie in Gewaltszenarien des 20. Jahrhunderts“ betreten. „Da bin ich ja mal gespannt“, sagt der eine zu seinem Sitznachbarn, „das war ja ein blutiger Krieg damals“. „Und einer, in dem Völkerrecht gebrochen wurde, weil die NATO ohne Mandat der Vereinten Nationen interveniert hat!“, antwortet ihm der andere.

Der Roman „ë“ besticht durch kluge (Selbst-)Reflexionen, nicht zuletzt über Semantik: „Man ist sich nicht sicher, ob das Albanische aus dem Illyrischen oder aus dem Thrakischen kommt. Es gibt wohl auch Theorien, dass Albanisch die Fortsetzung einer unabhängigen altbalkanischen Sprache ist“, erklärt die Erzählerin einem Kommilitonen.

Ähnlich wie Ronya Othmann, die in ihrem Roman „Vierundsiebzig“, letztes Jahr Shortlist des Deutschen Buchpreises, dem Völkermord an den Jesiden nachforschte, begibt sich Kicaj sorgsam auf Spurensuche und stellt Vorurteile, Rassismus und Ignoranz heraus – ohne je leichtfertig inflationär gebrauchte Begriffe wie „Genozid“ zu bemühen. Kicaj urteilt nicht vorschnell und zieht keine Schlüsse, sondern beobachtet und stellt gute Fragen. Ihr Roman ist ein Puzzle von Beobachtungen, getrieben von der Suche nach Erkenntnissen und dürfte im Kampf gegen die eigene Sprachlosigkeit und das Vergessen zugleich ein Stück Selbstheilung sein.