8. November 2025 - 12.41 Uhr
Akt.: 8. November 2025 - 13.24 Uhr
PorträtNeuer ADR-Abgeordneter Michel Lemaire: „E Mënsch, deen sech net ëmmer allze eescht hëlt“
Die Frage, wie Luxemburg der von der ADR heraufbeschworenen „Wachstumsfalle“ entkommen könne, wusste Michel Lemaire Ende Oktober im Radio 100,7 nicht eindeutig zu beantworten. Durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz könnten wir vielleicht „méi smart Modeller“ entwickeln, unseren Finanzplatz so aufstellen, dass er „fit fir d’Zukunft“ sei. Auf die Frage nach der Absicherung der Renten zählte Lemaire die Maßnahmen auf, die CSV und DP sowieso umzusetzen gedenken. Langfristig müssten Betriebs- und private Zusatzrenten gestärkt, neben dem öffentlichen ein kapitalgedecktes Rentensystem aufgebaut werden, sagte Lemaire. Das Beispiel zeigt, wie wenig alternative Reformschläge die Alternativ Demokratesch Reformpartei in zentralen politischen Fragen tatsächlich anzubieten hat. Weshalb sie ihre Politik vor allem auf die luxemburgische Sprache ausrichtet, gegen „kriminelle Ausländer“, LGBT und „links-grüne Ideologie“ hetzt. Was halbwegs zu funktionieren scheint, wie der letzte Politmonitor gezeigt hat.
Am 20. November, rund anderthalb Monate nach seinem 37. Geburtstag, rückt Michel Lemaire für den 72-jährigen Jeff Engelen in die Abgeordnetenkammer nach. Lemaire ist ein Millennial. Er gehört der ersten Generation von Politikern an, die über das Internet politisiert wurde. Beim Referendum vor zehn Jahren folgte er Fred Keups Initiative „Nee zum Auslännerwahlrecht“ auf Facebook. Er sah sich auf Youtube Ansprachen von Gast Gibéryen und Fernand Kartheiser in der Abgeordnetenkammer an. Die ADR unterstützte das „Nee“ zum Ausländerwahlrecht, genau wie die Staatsbeamtengewerkschaft CGFP und am Ende die CSV. Der öffentliche Diskurs sei noch immer geprägt vom 80:20-Gefälle aus dem Referendum von 2015, behauptete Lemaire in seiner Ansprache auf dem ADR-Nationalkongress im März vergangenen Jahres auf der MS Marie Astrid: „Wësst der, déi 20 Prozent, déi lo nach den ëffentlechen Diskurs virginn, solle sech waarm undinn. Et dauert net méi laang, da gi mir den ëffentlechen Diskurs zu Lëtzebuerg vir!“
Revolutionstage
2015 war die ADR an ihrem historischen Tiefpunkt angelangt. Nach der Radikalisierung der Jugendorganisation Adrenalin und den Parteiaustritten der Abgeordneten Jacques-Yves Henckes (Zentrum) und Jean Colombera (Norden) wegen des rechtskonservativen Kurses, den der 2008 zur ADR gestoßene Fernand Kartheiser ihr verordnet hatte, fiel die Partei 2013 bei den Kammerwahlen auf unter sieben Prozent, ihren (vierten) Sitz im Norden verlor sie an die LSAP.
Michel Lemaire stammt aus dem (äußersten) Norden. Seine Eltern wanderten aus Ostbelgien nach Luxemburg ein, aus der Gemeinde Burg-Reuland, die an Ulflingen, Weiswampach und Clerf grenzt. 1982, als sein Vater als Maschinenbauingenieur bei Goodyear begann, kauften sie ein Haus in Marnach, 1999 nahmen sie die luxemburgische Staatsangehörigkeit an. Inzwischen ist die Familie im Kanton Clerf gut vernetzt, Michel Lemaire zeigt sich auf allen Dorffesten, sein älterer Bruder Laurent ist ein preisgekrönter Musiker, spielt Zugposaune in der Militärmusik und war lange Zeit Dirigent der „Gemengemusik Munzen“, in der auch sein Vater Mitglied ist. Sein Cousin ist der mit der Linken sympathisierende Punk-Musiker Max Hahn, der mehrere Jahre parteiunabhängiges Mitglied im Ulflinger Gemeinderat war (Kontakt miteinander haben die beiden kaum noch). Einer seiner besten Freunde ist der Wiltzer DP-Gemeinderat Maurice Muller, mit dem er im September an die US-amerikanische West Coast reiste.
Déi 20 Prozent, déi lo nach den ëffentlechen Diskurs virginn, solle sech waarm undinn. Et dauert net méi laang, da gi mir den ëffentlechen Diskurs zu Lëtzebuerg vir.
Nach dem Abitur im Wiltzer „Lycée du Nord“ zog Michel Lemaire nach Graz, um Germanistik zu studieren. In seiner Masterarbeit von 2015 beschäftigte er sich mit „Realität und Vision“ im Werk des jüdisch-deutschen Schriftstellers Ernst Toller, ehemaliger Vorsitzender der revolutionären Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) in Bayern und Repräsentant der Münchner Räterepublik. Besonders berücksichtigte Lemaire in seiner Arbeit den Einfluss des kommunistischen Anarchisten Gustav Landauer auf den jungen Toller.
Sein Elternhaus sei zwar „schwarz“, aber nicht politisch, erzählt Michel Lemaire vergangene Woche im Gespräch mit dem Tageblatt im Sitz der ADR-Fraktion in der hauptstädtischen rue Notre-Dame. Auch an der Uni sei er „kee ganz politesche Mënsch“ gewesen. Bis heute könne er mit Begriffen wie links und rechts wenig anfangen, er habe weder Edmund Burke noch Karl Marx gelesen: „Ech hu kee philosopheschen Iwwerbau, un dem ech mech orientéieren. Ech probéiere mat mengem Hausverstand Decisiounen ze huelen.“
Polyamorie
Wieso Michel Lemaire noch während seines Studiums begann, mit der rechtsnationalen ADR zu sympathisieren, kann er nicht genau erklären. Mitglied in einer Burschenschaft oder einem Studentenzirkel sei er nicht gewesen. Graz sei sehr gespalten, sagt Lemaire. Während auf kommunaler Ebene die Kommunisten in den vergangenen 20 Jahren immer stärker geworden sind und seit 2021 die Bürgermeisterin stellen, regiert auf Landesebene in der Steiermark die deutschnationale FPÖ. Nachdem er Fernand Kartheiser eine SMS geschrieben hatte, habe der ihn 2015 an Silvester zu einem Tête-à-Tête ins „Hôtel Le Royal“ eingeladen. Wenige Wochen später sei er beim „Neijooschpatt“ der ADR im „Schwaarzen Haus“ in Cents von Gast Gibéryen herzlich empfangen worden.
Danach ging es Schlag auf Schlag. Am 8. Februar 2016 wurde Lemaire zweiter Vizepräsident der Adrenalin, im März hielt er seine erste Ansprache auf dem Parteikongress in Aspelt: „D’ADR ass eng Partei, déi sech zu engem gudden Deel engem Iwwerbau verpflicht fillt, deen sech net zulescht och an zu recht fir konservativ Wäerter asetzt“, sagte Lemaire, wetterte gegen „politisch korrektes“ und „linksliberales Hoheitsdenken“, bezeichnete die Adoption von Kindern durch homosexuelle Paare als eine Form der Liberalisierung frühkindlicher Erziehung, warnte die Rentner von der ADR vor polyamoren Gemeinschaften, die er während seines Studiums in Österreich kennengelernt habe („ohne mit ihnen in Kontakt zu treten“). Auch die dürften bald Kinder adoptieren, sagte Lemaire. Die „traditionelle Familie“ ehrt er, ist selbst aber „Jonggesell“.
2017 übernahm er von Joëlle Gianotte den Adrenalin-Vorsitz, kurze Zeit später wurde einer seiner Vorgänger, der Petinger Gemeinderat Joé Thein, aus der ADR ausgeschlossen, weil er einen Facebook-Post gelikt hatte, in dem ein User dem damaligen LSAP-Außenminister Jean Asselborn wünschte, er solle „mit einem Cabrio durch Dallas gefahren werden“. Im selben Jahr stellten Gibéryen und Kartheiser Lemaire als Attaché in ihrer Fraktion ein. Seinen „Stage“, um Deutschlehrer zu werden, gab er auf. Bei den Gemeindewahlen wurde er auf der ADR-Liste Erster in Clerf, für einen Sitz reichte es jedoch nicht.
„Schelm“
2018, nach der Aufnahme von Fred Keup, gewann die ADR bei den Kammerwahlen ihr Mandat im Norden zurück, Lemaire wurde hinter Jeff Engelen Zweiter. Er war in der Partei angekommen, sein rhetorisches Talent, Demagogie und Büttenrede zu vereinen, brachte ihm auf Kongressen Applaus ein. Im Oktober 2020 attestierte ihm sein Vorbild Gibéryen im Wort, ein „sehr seriöser und feiner Mitarbeiter“ zu sein: „Ich bin überzeugt, ihn irgendwann in der Chamber zu sehen.“ 2022 nahm er an (mindestens) zwei Konferenzen der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) teil, der die ADR im Gegensatz zu Fernand Kartheiser noch angehört: Die von dem rechtsextremen rumänischen Präsidentschaftskandidaten George Simion in Bukarest organisierte ging über die „Vorherrschaft nationaler Verfassungen über die europäische Bürokratie“. Die in Athen über den strategischen Umgang mit traditionellen und sozialen Medien.

Im selben Jahr übergab Lemaire den Adrenalin-Vorsitz an Maksymilian Woroszylo und wurde Bezirkspräsident im Norden. Im Juni 2023 konnte die ADR ihr Resultat in Clerf verdoppeln, als Erstgewählter verzeichnete Lemaire doppelt so viele Stimmen wie der Nächstgewählte und zog in den Gemeinderat ein. Vor den Kammerwahlen kam es in der ADR Norden zu einer Auseinandersetzung zwischen Bezirksvorstand und Nationalkomitee über die Zusammensetzung der Kandidatenliste. Lemaire war auf der Seite von Keup und Kartheiser, mindestens vier Mitglieder des Bezirksvorstands verließen die Partei. Die ADR gewann im Norden mehr hinzu als andere Parteien, für einen zweiten Sitz reichte es jedoch nicht.
In den letzten Wochen gab Lemaire sich in Interviews als bodenständiger und etwas naiver „Nordpolitiker“. Im Gemeinderat agiert er eher unscheinbar und zurückhaltend, wiederholt vor allem die Positionen, die seine Partei in der Kammer vertritt. Im Parlament werde er sich seinen Wählern aus dem Norden verpflichtet fühlen, sagt er dem Tageblatt. Schon als Attaché habe er für Engelen den parlamentarischen Landwirtschaftsausschuss betreut, der ländliche Raum sei ihm wichtig.
2017, nachdem er Adrenalin-Präsident geworden war, bezeichnete Michel Lemaire sich gegenüber dem Wort als „Schelm“. Ein Schuft, Betrüger, Hochstapler? So sei das nicht gemeint gewesen, sagt er dem Tageblatt: „Ech hunn et an där Optik gesinn: De Schelm geet an d’Welt eraus a mécht seng Erfarungen, entdeckt d’Welt a senger Naivitéit, léiert, stolpert, fält a steet rëm op. An ech sinn e Mënsch, dee sech net ëmmer allze eescht hëlt.“
De Maart

Ich denke allerdings dass beim beruehmten referendum von 2015 zum auslaenderwahlrecht nicht nur ADR,CGFP und CSV das Nee unterstuetzten,sondern auch erhebliche teile der DP und sogar LSAP waehler...sonst waere das 80 zu 20 resultat nicht zustande gekommen.