Donnerstag25. Dezember 2025

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Alain spannt den BogenDirigentenprominenz: Rattle und Dudamel im Doppelpack in der Philharmonie

Alain spannt den Bogen / Dirigentenprominenz: Rattle und Dudamel im Doppelpack in der Philharmonie
Sir Simon Rattle feierte seinen 70. Geburtstag am Pult des London Symphony in Luxemburg Foto: Philharmonie/Sébastien Grébille

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Förmlich die Klinke in die Hand gaben sich dieser Tage in der Philharmonie zwei Vertreter der absoluten Dirigentenprominenz: zunächst Sir Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra mit einem doppelten Konzert zum 70. Geburtstag des Maestros, und kurz darauf Gustavo Dudamel, ebenfalls an zwei Abenden, mit „seinem“ Simon Bolivar Symphony Orchestra of Venezuela, dessen Chef er bereits mit 18 Jahren war. 

Seit seiner Aufnahme der 10. Symphonie von Gustav Mahler 1980 und der darauffolgenden Gesamteinspielung der Sibelius-Symphonien (alle mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra) war Simon Rattle der Held meiner frühen Klassikjahre. Dem ehemaligen Direktor des Théâtre Municipal Esch/Alzette Guy Wagner war es sogar Mitte der achtziger Jahre gelungen, den damals noch relativ unbekannten Rattle für ein Konzert in die Minettemetropole zu verpflichten, wo das CBSO die drei letzten Sibelius-Symphonien spielte. Das war mein allererstes Rattle-Konzert und das ist immerhin schon fast 40 Jahre her. Und es sollten noch viele folgen …

Aus der Balance

Für seinen 70. Geburtstag hatte die Philharmonie Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra gleich für zwei Geburtstagskonzerte eingeladen. In diesen „Celebrating 70“-Konzerten hatte Rattle dann auch ein gemischtes Programm zusammengestellt, bei dem zeitgenössische Musik und englische Komponisten nicht fehlen durften. Rattle ist einer der wenigen Dirigenten, die wirklich regelmäßig moderne Werke in ihre Konzertprogramme aufnehmen. So verwunderte es niemanden, dass das erste Konzert am vergangenen Mittwoch mit einem Werk von Pierre Boulez begann, dessen 100. Geburtstag wir ebenfalls dieses Jahr feiern. Eclats pour quinze instruments ist ein wunderbar transparentes Werk mit Improvisations-Charakter. Boulez komponierte dieses „Konzert für einen Dirigenten“ 1964/65 für die Mitglieder des Los Angeles Philharmonic Orchestra. In der Tat entscheidet der Dirigent in letzter Minute, in welcher Reihenfolge (I, II, II, IV oder IV-I-II-III. oder …) das Stück gespielt wird, genauso wie das Tempo oder die Intensität. Das alles ist für den Hörer kaum zu merken, bringt aber eine besondere hellhörige Dynamik ins Ensemble.

Die 15 Musiker saßen dann auch auf ihren jeweiligen Orchesterplätzen, was für die Entwicklung des Klanges im Raum sehr wichtig war. Das sehr schöne, präzise und atmende Spiel der Solisten ließ einen erstklassigen Konzertabend erwarten. Dem war aber leider nicht so. Bereits beim zweiten Stück, den fantastischen Interludes and Aria (vorgetragen von der persönlichkeitsstarken Barbara Hannigan) aus der Oper Lessons in Love and Violence von George Benjamin (er feiert ebenfalls einen runden Geburtstag, nämlich den 65.), spielte das London Symphony Orchestra zwar recht deftig, aber wenig präzise und im Gesamtklang schlecht ausbalanciert.

Auch die 4. Symphonie von Johannes Brahms wurde zu einer Enttäuschung. Rattle dirigierte diese Vierte ungemein schwerfällig, ohne dabei zum Kern der Musik vorzustoßen. Viele herausgearbeitete Einzelepisoden ließen das Werk kontinuierlich auseinanderbrechen, selbst das sehr melodisch und permanent fließende Andante verlor durch Sir Simons Überinterpretation seine natürliche Bewegung. Zudem kam das LSO über eine mittelmäßige und recht pauschale Orchesterarbeit nicht hinaus. Auch der als Zugabe gespielte Ungarische Tanz von Brahms wollte nicht so recht versöhnen.

John Scofield harmonierte auf der E-Gitarre perfekt mit dem LSO
John Scofield harmonierte auf der E-Gitarre perfekt mit dem LSO Foto: Philharmonie/Sébastien Grébille

Happy Birthday

Weitaus besser dann der zweite Konzertabend. Das LSO wirkte hier frisch, spielfreudig und reaktionsschnell. Bereits die einleitenden Four Ritual Dances aus Sir Michael Tippetts Oper The Midsummer Marriage wurden zu einem Hochgenuss und man kann sich nur fragen, warum dieses hervorragende Werk nicht öfters zu hören ist. Die Musiker agierten agil und präzise, die Klangbalance war ebenso wie die Dynamik optimal. Die Mittelmäßigkeit des ersten Konzerts war wie weggewischt. Auch bei dem aufregenden SCO – Five Portraits for Electric Guitar and Orchestra aus dem Jahr 2019 von Mark-Anthony Turnage erlebte man außergewöhnliche und sehr fantasievolle Musik. Turnage zeigte, wie gut eigentlich die E-Gitarre mit einem Symphonieorchester harmonieren kann. Solist war der legendäre Jazz-Gitarrist John Scofield, den wir vor zwei Jahren hier zusammen mit Dave Holland gehört hatten.

Pianist Krystian Zimerman baute für Sir Simon ein kleines „Happy Birthday“ ein
Pianist Krystian Zimerman baute für Sir Simon ein kleines „Happy Birthday“ ein Foto: Philharmonie/Sébastien Grébille

Nach der Pause dann Beethovens 4. Klavierkonzert mit Krystian Zimerman. Die Aufführung wurde dann zu einem musikalischen Fest, zumal sich Zimerman und Rattle köstlich dabei amüsierten. In der Kadenz des 1. Satzes ließ Zimerman dann das Happy Birthday erklingen, um dann wieder zu Beethoven zurückzukehren. Der polnische Pianist erwies sich auch diesmal als kongenialer Interpret dieses Konzerts, während Rattle und das LSO Beethovens Partitur mit den schönsten Klängen zu huldigen wussten. Ehe Zimerman dann den Champagner holte und mit Sir Simon anstieß, spielte er noch eine Nocturne von Chopin. Und dies auf unvergleichliche Weise. Versteht sich.

Düstere 3. Symphonie von Mahler

Auch das Simon Bolivar Symphony Orchestra of Venezuela gastierte mit gleich zwei Konzerten unter Gustavo Dudamel in der Philharmonie. Vollbesetzt war der große Saal der Philharmonie, als Dudamel die gewaltige 3. Symphonie von Gustav Mahler dirigierte. Der inzwischen 43-jährige Dirigent, der immerhin schon seit 20 Jahren Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic ist und zu Beginn seiner Karriere eher argwöhnisch betrachtet wurde, hat sich inzwischen zu einem der interessantesten Dirigenten der Gegenwart entwickelt. Und für die Musik von Gustav Mahler scheint er nicht nur eine besondere Vorliebe, sondern auch ein besonders gutes Händchen zu haben.

Gustavo Dudamel leitete in Luxemburg sein venezolanisches „Heimatorchester“ 
Gustavo Dudamel leitete in Luxemburg sein venezolanisches „Heimatorchester“  Foto: Philharmonie/Sébastien Grébille

Auch das noch junge Simon Bolivar Symphony Orchestra, das 1978 als Simon Bolivar Youth Symphony Orchestra von José Antonio Abreu und seiner El-Sistema-Initiative gegründet wurde, hat sich zu einem ernst zu nehmenden Klangkörper gemausert, der mit einem ungewöhnlichen Klangpotenzial und einer wunderbaren Raffinesse zu beeindrucken weiß. Zum Andenken an den 2018 verstorbenen Abreu dirigierte Gustavo Dudamel zwei kurze Madrigale von Abreu, der auch als Komponist tätig war, die wunderschön vom Choeur de l’Orchestre de Paris-Philharmonie gesungen wurden.

Danach erlebte das Publikum eine in jeder Hinsicht ergreifende Interpretation der 3. Symphonie von Gustav Mahler. Bereits in einem atemberaubenden, aber sehr düster musizierten Kopfsatz gelangen Dudamel und seinem Bolivar Orchestra eine überzeugende Interpretation. Trotz der vielen Naturelemente sollte die ernsthafte Stimmung permanent die Oberhand behalten und in einem ebenso schönen wie ergreifenden Finale gipfeln. Nach bereits vier gespielten Konzerten, davon je zwei in Paris und London, ließen sich allerdings einige Ermüdungserscheinungen im sonst klanglich fantastischen Blech ausmachen. Da klang etliches zögerlich und unpräzise. Auch das Posthornsolo blieb von einigen Kieksern nicht verschont. Aber das ist menschlich und trübte den hervorragenden Gesamteindruck nicht. Ansonsten begeisterte das Orchester mit seinem satten und warmen Streicherklang und einem hier extrem präzisen Spiel. Und zum Gelingen dieser Aufführung trugen ebenfalls die exzellente Mezzosopranistin Marianne Crebassa, die Pueri Cantores du Conservatoire de la Ville de Luxemburg und der Choeur de l’Orchestre de Paris-Philharmonie bei. Beim Schlussapplaus zeigte sich Gustavo Dudamel als primo inter pares und nahm keinen Einzelapplaus entgegen. Bescheiden und sympathisch blieb er inmitten seiner Musiker stehen.

Eine venezolanische Fiesta

Auch im zweiten Konzert erlebte das Publikum großen Bahnhof. Am Vortag war schon aufgefallen, wie uneigennützig Gustavo Dudamel auftrat. Auch sein Dirigat ist klarer, analytischer geworden und seine Zeichengebung ist extrem präzise und unaufgeregt. Das ermöglicht den Musikern ein sicheres und kohärentes Spiel. Natürlich waren die beiden Werke der ersten Halbzeit ein Heimspiel für die venezolanischen Musiker, denn mit Ricardo Lorenz und Gonzalo Grau hatte man zwei venezolanische Komponisten mit im Gepäck. Und deren Musik hatte es in sich. Zuerst das effektvolle, rhythmische Todo Terreno von Ricardo Lorenz (*1961), was mit „auf jedem Gelände“ übersetzt werden kann. Die Musik ist heftig und folgt keiner regulären Spur, führt uns aber fantasievoll und mit vielen Effekten gespickt auf Off-road-Pfade. Mich erinnerte die Musik aber vielmehr an die Hektik eine Großstadt mit ihrer permanenten unregelmäßigen, nie nachlassenden und pulsierenden Energie. Ein musikalischer Leckerbissen für das Simon Bolivar Symphony Orchestra, das diese Musik mit einer Kraft und Dynamik spielte, die einem quasi die Ohren vom Kopf bliesen.

Herzliche Umarmung nach der venezolanischen Fiesta mit Jorge Glem auf der Cuatro
Herzliche Umarmung nach der venezolanischen Fiesta mit Jorge Glem auf der Cuatro Foto: Philharmonie/Sébastien Grébille

Eher friedvoll das folgende Werk von Gonzalo Grau (*1972). Odisea beschreibt eine fast kontemplative Reise von der Ostküste Venezuelas zum Landesinnern. Während dieser Reise erlebt das Publikum zusammen mit dem phänomenal spielenden Jorge Glem auf der Cuatro die verschiedenen traditionellen Musikstile, die die Kultur dieses Landes prägen. Mal rhythmisch akzentuiert, mal nostalgisch, Glems Spiel ist fantastisch und genauso aufregend wie Graus Komposition. Der riesige Jubel für den Solisten und den anwesenden Komponisten war in beiden Fällen mehr als gerechtfertigt. Glem spielte eine sehr originelle Improvisation als Zugabe, in der er venezolanische Rhythmen mit Zitaten von Bizet, Tschaikowsky oder Beethoven verzierte; dies natürlich mit überwältigender Spieltechnik.

Nach der Pause machten das Simon Bolivar Orchestra und Gustavo Dudamel Tschaikowskys 4. Symphonie zu einem wahren Spektakel, und siehe da, die Musik vertrug das sehr gut. Wir sind ja so an die überlegten, oft emotionsverhaltenen Interpretationen europäischer Orchester und Dirigenten gewöhnt, dass es wirklich guttat, einmal eine andere, frische Sicht auf ein vielgeschundenes Schlachtpferd wie diese 4. Symphonie zu erhalten. Die Musiker vermittelten den Eindruck: „Wir spielen, weil es uns Freude macht, und wir wollen unseren Klang und unsere Spielweise mit euch teilen.“ Und das ist dem Orchester und Dudamel hundertprozentig gelungen.

Um diese venezolanische Fiesta zu beenden, spielten die Musiker für das restlos begeisterte Publikum noch zwei Zugaben, nämlich Danzon Nr. 9 des mexikanischen Komponisten Arturo Marquez und Mambo aus Leonard Bernsteins West Side Story. Das Publikum tobte wie schon lange nicht mehr und die Jubelrufe und Beifallsstürme wollten kein Ende nehmen. Welch ein Konzert!

Prächtiger Klangkörper: Das Simon Bolivar Symphony Orchestra, der Choeur de l’Orchestre de Paris-Philharmonie und die Pueri Cantores Luxemburg spielten Mahlers Dritte
Prächtiger Klangkörper: Das Simon Bolivar Symphony Orchestra, der Choeur de l’Orchestre de Paris-Philharmonie und die Pueri Cantores Luxemburg spielten Mahlers Dritte Foto: Philharmonie/Alfonso Salgueiro