Kino ist am Lido im besonderen Maße ein Medium, das auf reale Konflikte aufmerksam macht, Empathie erzeugt und das Publikum dazu einlädt, gesellschaftliche Realität kritisch zu hinterfragen. Insgesamt zeigt das Festival 2025, dass Kino weit mehr ist als reine Unterhaltung: Es ist ein Spiegel gesellschaftlicher Dynamiken, ein Forum für moralische Reflexion und ein Raum für die Suche nach individueller und kollektiver Identität. Dass in diesem Jahr Werner Herzog bereits mit dem Ehrenlöwen ausgezeichnet wurde, setzt ein bewusstes Zeichen: Der große Außenseiter des deutschen Kinos, berühmt für seine radikalen Spiel- und Dokumentarfilme wie „Aguirre, der Zorn Gottes“ (1972), „Fitzcarraldo“ (1982) oder „Grizzly Man“ (2005), wird damit für ein Werk geehrt, das stets zwischen Vision und Wahnsinn balancierte. Herzog, der Abenteurer, Philosoph und Chronist der Extreme, erinnert das Festivalpublikum daran, dass Kino immer auch Expedition ist. In dem Sinne folgt hier die Besprechung von vier Filmen, die am Lido um den Hauptpreis, den Goldenen Löwen, kämpfen. Die Vergabe findet am 6. September statt, luxemburgische Filme oder Koproduktionen sind in der Kategorie nicht vertreten.
„Jay Kelly“
Die Vielfalt der Filme im Hauptwettbewerb um den begehrten Goldenen Löwen ist beachtlich. Zunächst gibt es da viel Hollywood-Glanz, denn positiv gewendet will „Jay Kelly“ als zartes, melancholisches Porträt gelesen werden: ein Film über Altern, Reue, die Sehnsucht nach Nähe. Clooney gibt darin den alternden Schauspiel-Star Jay Kelly: oberflächlich, immerzu charmant, darunter verletzlich. Die Beerdigung eines Kollegen und die Konfrontation mit einem einstigen Weggefährten der Schauspielschule setzten seine Identitätskrise frei. Eine Reise soll da helfen – die europäische Kulisse glitzert wie eine Postkarte aus einem neuen Leben, das man sich herbeisehnt, um den verpassten Chancen des alten besser zu begegnen. All das könnte berühren – wenn man den Willen aufbringt, sich dem biografisch grundierten Gestus des Films hinzugeben. Doch genau hier beginnt die Schieflage: Noah Baumbachs „Jay Kelly“ badet im warmen Wasser seiner eigenen Selbstmythologisierung.

Der Film ist weniger eine Selbstbefragung als ein luxuriös ausgestatteter Egotrip, der von der Nostalgie seines alternden Stars lebt. Clooneys Filmkarriere wird in Rückblenden als emotionales Argument recycelt, während die zentrale „Selbstfindung in der Toskana“ so platt aufgerufen wird, dass man fast den Espresso aus der Clooney-Werbung zu riechen glaubt. Das Bittere ist, dass „Jay Kelly“ damit die eigene Ambition unterläuft. Statt die Frage nach Identität und Vergänglichkeit ernsthaft zu stellen, drängt sich der Film als sentimentale Selbstfeier auf. Ironischerweise wird so ausgerechnet der Versuch, über das Altern nachzudenken, zu einem Paradebeispiel jener Selbstgefälligkeit, die er kritisieren könnte – ein Film wie ein Spiegel, der das Gesicht glättet, statt die Falten sichtbar zu machen. Allenfalls lässt sich die Oberflächlichkeit von „Jay Kelly“ selbst noch als Ausdruck der Leere dieser Existenz lesen, die Oberflächlichkeit also als kalkulierter Teil eines Konzepts.
„Bugonia“
„Bugonia“ vereint alles, was Yorgos Lanthimos zu einem der markantesten Regisseure des Gegenwartskinos gemacht hat: grotesker Humor, eine stilisierte Bildsprache, eine Konstellation von Figuren, die zwischen Abgründigkeit und Komik changieren. Die Geschichte um zwei Verschwörungsgläubige, die eine Pharmakonzern-Chefin entführen, trägt das Versprechen einer bitterbösen Satire über Fanatismus, Irrationalismus und die Sehnsucht nach Feindbildern. Emma Stone und Jesse Plemons verleihen dieser Versuchsanordnung zweifellos darstellerische Autorität – Stone als eiskalte, zugleich fragile Machtfigur, Plemons als unerschütterter Überzeugungstäter. Doch gerade dort, wo Lanthimos’ Kino in der Vergangenheit seine eigentliche Kraft entfaltet hat – in der Überschreitung, in der Überhöhung alltäglicher Strukturen ins Unheimliche –, gerät „Bugonia“ erstaunlich flach.

Anstatt die Mechanismen von Radikalisierung oder die Obsessionen der Gegenwart subtil freizulegen, illustriert der Film lediglich Schlagworte, die längst zum kulturellen Inventar gehören: Fanatismus, toxische Männlichkeit, Verschwörungsglaube. Diese Begriffe werden nicht dekonstruiert, sondern bebildert; nicht problematisiert, sondern zu Markierungen stilisiert, um sich ganz im Konsens des Zeitgeistes zu glauben. „Bugonia“ möchte ein Kommentar zur Gegenwart sein, bleibt aber bei der Pose stehen. Die grotesken Übersteigerungen verlieren so ihre analytische Schärfe und werden zu dekorativem Zynismus, der den Zuschauer eher entlastet als verstört. Was als bissige Parabel gedacht ist, verkommt zur Illustration eines Konsenses. So zeigt sich Lanthimos hier weniger als unbequemer Demaskierer gesellschaftlicher Mechanismen wie einst, sondern mehr als geschickter Arrangeur von Begrifflichkeiten.
„Orphan“
In „Orphan“ verschiebt László Nemes, bekannt für sein eindringliches KZ-Drama „Son of Saul“ (2015) und das historische Kammerspiel „Sunset“ (2018), ein Familiendrama in eine symbolische Dimension. Wieder arbeitet er mit einem präzisen Blick auf die Zwischenräume von Intimität und Geschichte, auf Figuren, die unter dem Druck politischer Mächte ihr Innerstes bewahren müssen. Budapest, 1957: Der zwölfjährige Andor wächst in einem Waisenhaus auf. Seine Mutter Klára hat ihn einst aufgegeben, bewahrt aber in Erzählungen ein tröstliches Bild des verstorbenen Vaters – ein Mythos, der Andor stützt und schützt. Als sie ihn nach Kriegsende aus dem Waisenhaus wieder zu sich holt, entfaltet sich eine Phase der Wiederannäherung. Diese fragile Harmonie gerät ins Wanken, als Berend, der neue Mann an Kláras Seite, mit Autorität und Härte Vaterschaft beansprucht.

Nemes inszeniert diesen Konflikt nicht nur als familiäre Konfrontation, sondern als Allegorie auf die ungarische Nachkriegsgeschichte. Klára steht als „Mutter Erde“ für das Heimatliche, für Identität, Geborgenheit und Herkunft. Berend hingegen repräsentiert das „Vaterland“ im politischen Sinne: die Sowjetunion, die nach 1956 ihren Anspruch auf Ungarn geltend macht, mit Macht, Gewalt. Andor selbst verkörpert die Zerrissenheit des Landes – innerlich der Mutter verbunden, faktisch vom Vater beansprucht. Die Spannung des Films entsteht aus diesem Dreieck: zwischen Zärtlichkeit und Zwang, Nähe und Fremdbestimmung. Nemes zeigt die Unsicherheit eines Kindes, das inmitten widersprüchlicher Loyalitäten seine Identität sucht – und macht daraus ein Sinnbild für eine ganze Nation, gefangen zwischen Erinnerung, Verlust und dem Zugriff von außen.
„Frankenstein“

Guillermo Del Toros „Frankenstein“ fügt sich nahtlos in den Strom seiner bisherigen Filme ein, weil er den Roman von Mary Shelley nicht als bloße Schauerlektüre liest, sondern als melancholische Meditation über das Missverstandene, das Marginalisierte. Schon immer hat er die klassischen Monsterstoffe einer Neulektüre unterzogen: „The Shape of Water“ (2017) war seine poetische Revision von „Creature from the Black Lagoon“ (1954), ein Liebeslied an das Abseitige, das von der Norm Verschmähte; „Nightmare Alley“ (2021) wiederum hallte in seiner Zirkus- und Freakshow-Atmosphäre Tod Brownings „Freaks“ (1932) nach, aber mit dem spezifischen Blick auf Figuren, die zwischen Ausbeutung und Sehnsucht nach Würde gefangen sind. In diesem Kontext erscheint Victor Frankensteins Geschöpf als das prägnante Del-Toro-Wesen: ein Monster, das zugleich Spiegel und Opfer menschlicher Grausamkeit ist, missverstanden und doch voller Sehnsucht nach Anerkennung. Die Geschichte ist bei ihm kein bloßes Märchen von Hybris und Strafe, sondern eine intime Tragödie über das Menschsein im Angesicht der Ablehnung. Man spürt, dass Del Toro den Mythos neu liest, ihn mit Zärtlichkeit ummantelt, die Narben betastet und in ihnen Schönheit findet – ganz so, wie er es mit seinen Monstern schon immer getan hat.
De Maart
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