Sie ist eine der schönsten Kirchen von Rio de Janeiro und liegt am Ende der Avenida Getulio Vargas im Zentrum der Millionenmetropole. Die prunkvolle Innenausstattung der Igreja Nossa Senhora da Candelária gehört zu den großen Kunstschätzen Brasiliens. Doch das bedeutendste Kreuz des Gotteshauses befindet sich nicht im Inneren, sondern außerhalb. Es ist ein etwa zwei Meter hohes Holzkreuz mit acht Namensschildern.
Mittlerweile steht bereits das fünfte Kreuz an ein und derselben Stelle. Die vier vorigen wurden mutwillig zerstört. Trotz der Überwachungskameras in der Nähe wurde bisher niemand dafür zur Rechenschaft gezogen. Das „Movimento Candelária Nunca Mais“ (Bewegung Candelária nie wieder) hat die Kreuze zum Gedenken an die Opfer eines der schrecklichsten Fälle von Polizeigewalt in Brasilien jedes Mal wieder aufgebaut.
Es war kurz vor Mitternacht zwischen dem 23. und 24. Juli 1993, als eine Gruppe von Männern in zwei Autos mit abgeklebten Kennzeichen heranfuhren und acht Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 19 Jahren, die auf dem Trottoir vor der Kirche schliefen, erschossen. Das Massaker ist unvergessen. Vergangenes Jahr wurde daraus eine vierteilige Netflix-Serie: „Os Quatro da Candelária“ erzählt von den letzten 36 Stunden vor dem Verbrechen aus der Sicht von vier Opfern und Überlebenden. Die Macher der fiktionalisierten, aber auf den wahren Geschehnissen basierenden Serie ließen sich von den Aussagen der Zeugen inspirieren.
Der Journalist Tiago Rogero, Korrespondent des britischen Guardian, sprach mit Erica Nunes, die damals zehn Jahre alt war und zum Zeitpunkt des Massakers in einer anderen Kirche Essen holte. „Als ich zurückkam, waren alle tot“, so Erica Nunes, die das Vorbild lieferte für die Figur Pipoca (Popcorn), gespielt von der Neunjährigen Wendy Queiroz. Sie lebte in der Favela Maré. Ihre Mutter war zum Arbeiten nach São Paulo gegangen, die kleine Erica blieb bei ihrer Großmutter und einem Onkel, der sie oft schlug. „Deshalb bin ich weggelaufen und lebte auf der Straße“, sagt sie. Zur Zeit des Massakers schliefen bis zu 70 Kinder vor der Kirche.
Todesschwadron aus (Ex-)Polizisten
Die Todesschwadron soll von den örtlichen Ladenbesitzern gerufen worden sein, weil die Straßenkinder für sie geschäftsschädigend waren, heißt es. Eine andere Version geht von einer Racheaktion der Polizei aus: Viele „meninos de rua“ (Straßenkinder) bestritten ihren Lebensunterhalt – außer mit Prostitution – durch Drogenhandel. Verbrecherorganisation wie das in Rio de Janeiro beheimatete „Comando Vermelho“ (Rotes Kommando) rekrutieren ihren Nachwuchs unter den ihnen. Die Kleinsten verdienen ihr Geld als „fogueteiros“ (Leuchtraketen), die ihre Komplizen mit Feuerwerksraketen vor der Polizei warnen, andere transportieren „aviões“ (Flugzeuge) Drogen durch die Stadt oder bringen sie zu den Kunden.
Die als besonders korrupt geltende Polizei von Rio war selbst ins Rauschgiftgeschäft involviert. Mehrere Männer wurden als Täter verhaftet. Als sie 1996 vor Gericht kamen, meldete sich ein weiterer Polizist. Er gestand die Tat und nannte seine drei Komplizen. Einer wurde erschossen, als er verhaftet werden sollte, drei wurden verurteilte, sind aber heute wieder frei. Zumindest einer soll noch flüchtig sein.
Luis Lomenha war zur Tatzeit ein Teenager. Der Autor der Serie, neben Márcia Faria auch Co-Regisseur, erinnert sich an die „Bilder von den auf dem Boden liegenden Körpern. Es waren Kinder, die wie ich aussahen, sie waren alle schwarz – und in einem Zustand völliger Verletzlichkeit.“ Dies bewog ihn, die Geschichte aus der Perspektive der Opfer zu erzählen, um ihnen „die Kindheit und die Menschlichkeit zurückzugeben, die man ihnen genommen hatte“. In der Serie schlafen und träumen sie, als ihre Mörder das Feuer eröffnen.
Der Regisseur weist darauf hin, dass die Polizisten oft selbst Afrobrasilianer und arm sind, aber einer unterdrückerischen weißen Agenda folgten. Die Militärpolizei von Rio ist für ihre Gewalttätigkeit berüchtigt. In den vergangenen Jahren wurden Tausende junge Brasilianer ermordet, die Mehrheit von ihnen waren Afrobrasilianer. Luiz Eduardo Soares weiß, dass die Militärpolizei eine 200 Jahre alte Tradition geerbt habe, „die auf ihre Ursprünge bei der Jagd auf Sklaven und den Schutz der Oberschicht zurückgeht“. Der Anthropologe, Politologe, frühere Sicherheitsbeauftragte von Rio und Staatssekretär für öffentliche Sicherheit von Brasiliens Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva schrieb seine Erkenntnisse in dem Buch „Elite da Tropa“ nieder, das die Grundlage des Films „Tropa de Elite“ (2007) von José Padilha wurde.
Rassismus und Klassismus grassieren
Zwar löste das Massaker von Candelária einen Aufschrei auf, der über die Grenzen des Landes hinausging. Etwa zehntausend Menschen gingen in Rio auf die Straße, um gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. Auf der Beerdigung der Opfer kam es zu Tumulten. Michael Jackson und seine Schwester Janet setzten sich öffentlich für die Bestrafung der Täter ein. Der „King of Pop“ sagte seinen Auftritt im Maracanã-Stadion ab. Doch das internationale Entsetzen hat kaum etwas bewirkt. Die Zahl der Morde an Straßenkindern hat sich nach einigen Quellen seither sogar fast verdreifacht und stieg bis 2018 auf etwa 28.000. Manche sprechen von einem schleichenden Genozid.
Doch die Struktur und die Ausbildung der Polizei hätten sich bis heute nicht geändert, um zu verhindern, dass wieder so etwas geschieht, sagt Luiz Eduardo Soares. Gut einen Monat nach dem Massaker von Candelária tötete die Polizei 21 Menschen in Vigário Geral in Rios Nordzone (Chacina de Cigário Geral), 2005 Drehort des Dokumentarfilms „Favela Rising“, 2021 in der Favela Jacarezinho 28 Menschen, ebenso in der Nordzone. Immer wieder verdingen sich Polizisten oder Ex-Polizisten als Auftragskiller, sogenannte Justiceiros. Oft bleiben sie straffrei. Ihre Opfere sind meisten Straßenkinder und Obdachlose, Kleinkriminelle, Prostituierte und Transmenschen.
Für diese Gesellschaft zählen die Armen und Schwarzen nicht
Der Anteil der Afrobrasilianer ist hoch. „Für diese Gesellschaft zählen die Armen und Schwarzen nicht“, sagte Ivone Bezerra de Mello in einem Interview. Die Künstlerin und Menschenrechtlerin gründete in der Favela Maré das Sozialprojekt Uerê, das sich direkt an Straßenkinder wendet. Und Jurema Werneck von Amnesty International Brasil anlässlich des Gedenken 25 Jahre nach dem Massaker: „Anstatt die Polizei zum Schutz und zur Erhaltung des Lebens anzuleiten, hat der Staat die Vorstellung bekräftigt, dass die Rolle der Polizei darin besteht, zu töten.“ Nach Umfragen unter Einwohnern von Rio befürwortete die Mehrheit diese Form von Lynchjustiz. Die Tendenz habe zugenommen, befürchten nicht wenige Brasilianer. Die brasilianische Gesellschaft sei neoliberaler und egoistischer geworden. Es herrscht ein Klima des Hasses, dessen Spur in die Vergangenheit des Landes zurückführt. Heute wird in den sozialen Medien häufig „Massaker“ gefordert – ganz nach dem Motto: „Nur ein toter Verbrecher ist ein guter Verbrecher.“ Die Worte stammen von dem ultrarechten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, Lulas Vorgänger. In diesem Klima der Gewalt ist an jedem Tag ein neues Massaker möglich.
Vor diesem Hintergrund wirft „Os Quatro da Candelária“ zwar viele Fragen auf, eine genaue Ursachenanalyse ist jedoch nicht möglich, Lösungen sind im Brasilien von heute weit weg. Was den Regisseuren und jungen Schauspielern aber gelungen ist, vorneweg Andrei Marques als Jesus, Samuel Silva als Douglas, Patrick Congo als Sete und schließlich Wendy Queiroz als Pipoca: Sie rufen in vier jeweils etwa 45 Minuten Episoden ein gesellschaftliches Drama in Erinnerung, das fesselt und zugleich erschüttert.
Auf Netflix: „Die vier von Candelária“, Brasilien 2024, vier Folgen.

De Maart

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