23. November 2025 - 14.08 Uhr
L’histoire du temps présentDie verschwundenen Spuren sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern
Die Ukrainerinnen und Ukrainer, Russinnen und Russen, Belarussinnen und Belarussen sowie einige Polinnen und Polen waren 1942 nach Luxemburg gebracht worden, um in Industrie und Landwirtschaft jene ungefähr 11.000 Luxemburger Jungen zu ersetzen, die zwangsweise zur Wehrmacht eingezogen worden waren. Auf Grundlage akribischer Forschung, zahlreicher Zeitzeugenberichte und umfangreicher Archivrecherchen werden die rekonstruierten Schicksale von 2.621 sowjetischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erstmals einem deutschsprachigen Lesepublikum in Buchform und der französisch- und englischsprachigen Bevölkerung Luxemburgs in einer Ausstellung zugänglich gemacht.
Den Verstummten eine Stimme geben
„Ich kann aufgrund der Unruhe, die mich bei den Erinnerungen befällt, nicht ruhig darüber schreiben; es ist, als ob ich heute in diese Zeit zurückversetzt würde, in der ich im Lager die Nr. 134 war.“ Die ehemalige Ostarbeiterin Aleksandra Apryschko weint über dem Brief und zieht mit dem Kugelschreiber den Tropfen nach: „Das sind meine Tränen.“ In ihrem Brief an Wera Winitschenko, eine andere ehemalige Arbed-Ostarbeiterin in Differdingen, fragt sie in den 1990ern rhetorisch, vor wem sie sich als Minderjährige schuldig gemacht hätten, dass die Deutschen sie in Luxemburg zur Einschüchterung an die Wand stellten, sie hinter Stacheldraht hielten, mit Rüben fütterten und sie Läusen und Wanzen aussetzten. Aber ihre Verbitterung gilt nicht nur den Deutschen, sondern auch denen, die sie zu Hause in der Sowjetunion „deutsche Prostituierte“ nannten.
Nach Jahrzehnten des Schweigens unter dem sowjetischen Regime wurden die unterdrückten Erinnerungen nach dessen Zusammenbruch 1991 nicht nur in den Briefen untereinander laut.
Viele Schreiben gingen in den 1990er-Jahren auch an luxemburgische Behörden – in der Hoffnung auf Arbeitszeitbestätigungen für die Rente oder auf symbolische Entschädigungen der deutschen Regierung, die erst damals gezahlt wurden. Da jedoch weder Behörden noch Betriebe die entsprechenden Namenslisten oder Unterlagen finden konnten, ließen sich diese Anfragen nicht positiv beantworten. Gerade diese abgelehnten Gesuche bildeten den Ausgangspunkt für das Forschungsprojekt, das schließlich im Buch mündete.
Das Buch, das im November 2025 den Lëtzebuerger Buchpräis in der Kategorie „Sachbuch“ erhielt, ist ein Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojekts an der Universität Luxemburg, finanziert vom Staatsministerium Luxemburgs und durchgeführt am Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History. Die Forschung, die Ganschow von 2021 bis 2024 in der Ukraine, Russland, Belarus, Deutschland, Frankreich, den USA, Australien und natürlich in Luxemburg betrieben hat, systematisierte nicht nur den europäischen Wissensstand zum Thema. Sie verortet Luxemburg vor allem erstmals klar in einem transnationalen Forschungszusammenhang.
Die verschwundenen Spuren von 4.000 – und nicht nur 1.000 bis 2.000, wie lange dargestellt – Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern wurden aus über 40 Quellen behutsam rekonstruiert. Mehr als zweieinhalbtausend Namen, hunderte gut dokumentierte Lebenswege und dutzende ausführliche Biografien haben nun eine Stimme.
Ein Buch als Portal in die eigene Vergangenheit
Das Buch eröffnet verschiedene Zugänge zu diesem schmerzhaften Thema – auch für jene, die sich vor der Lektüre der 380 Seiten scheuen. Bereits das Inhaltsverzeichnis lädt dazu ein, thematisch oder zeitlich einzusteigen: das Vorkriegsleben der späteren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, das Überleben des Holodomor und stalinistischer Repressionen, Luxemburgs Bedarf an ausländischen Arbeitskräften; die Zeit in Luxemburg – in den Lagern, bei der Arbeit und im Kontakt mit der lokalen Bevölkerung; oder die Befreiungszeit hierzulande und die Nachkriegszeit in der Sowjetunion für die Repatriierten – und in Luxemburg für die ganz wenigen, die bleiben durften.
Ein Ortsregister am Ende des Buches erlaubt den Leserinnen und Lesern, direkt bei bekannten Orten einzusteigen – etwa bei den Lagerstandorten in Esch/Alzette – in Lallingen, in zwei Lagern in Belval, im Schloss Berwart und im Lager Portal Tipp in der heutigen rue du Clair-Chêne, aber auch in Schifflingen sowie in zwei Lagern in Düdelingen, in Differdingen und in zwei Lagern in Petingen, nur um die größten zu nennen. Die Ostarbeiterinnen und sowjetische Kriegsgefangene arbeiteten nicht nur für die Arbed, sie waren im ganzen Land verteilt – in Haushalten, auf Bauernhöfen oder in Betrieben –, vom industriellen Süden bis nach Diekirch, Wiltz, Ettelbrück und ins östliche Mertert.
Auch das Personenregister bietet einen „Einstieg“ in das Buch – und hat bereits mehreren luxemburgischen Leserinnen und Lesern geholfen, Familienangehörige zu identifizieren. So wird die Lektüre persönlich: Sie handelt nicht nur von der leidvollen Vergangenheit anderer, sondern auch von einem Kapitel luxemburgischer Geschichte.
2.621 Namen warten nun darauf, auf einer Webseite mit Biografien, Fotografien, Dokumenten und Karten publiziert zu werden. Vier persönliche Erinnerungsberichte ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Differdingen, Diekirch und Luxemburg-Stadt, die im Rahmen des Projekts erschlossen wurden, sollen übersetzt, kommentiert und veröffentlicht werden, wofür noch institutionelle Partner gesucht werden. Doch der erste Schritt zur Sichtbarmachung dieser vergessenen Opfergruppe in Luxemburg ist bereits gemacht: Die Ausstellung hat ihre Türen im „Centre de documentation sur les migrations humaines“ (CDMH) in Gare-Usines in Düdelingen geöffnet.
Der Geschichte ins Gesicht sehen
Die Ausstellung möchte ein breites Publikum erreichen, indem sie diese Geschichte visuell und über persönliche Zeugnisse – darunter ein Audio- und zwei Videointerviews – erfahrbar macht. Statt langer erklärender Texte stehen die Gesichter und Lebenswege jener im Mittelpunkt, die diese Zeit durchlitten. Besucherinnen und Besucher blicken den Menschen ins Gesicht, die als Kinder nach Luxemburg gebracht wurden, hören ihre Geschichten und erfahren ihre Lebensumstände über ein sorgfältig gestaltetes, kostenlos erhältliches Begleitheft in Französisch und Englisch. Auch das nachgedruckte Original des Briefes von Aleksandra Apryschko, mit den von ihr eingekreisten Tränentropfen, ist dort zu sehen.
Zu Beginn sehen die Besuchenden Porträts, die bei der Ankunft zwangsweise im Rahmen der OstarbeiterInnen-Registrierung aufgenommen wurden. Kurz darauf richtet sich der Blick auf eine großformatige Reproduktion des nationalsozialistisch besetzten Düdelingen – Hakenkreuzfahnen hängen während einer Nazi-Massenkundgebung vor der Kirche. In diese Welt kamen die vielfach noch jugendlichen Ostarbeiterinnen, Ostarbeiter und Kriegsgefangene.
Die Zeugnisse berichten von Gewalt, Misshandlungen und entbehrungsreicher Arbeit, aber auch von Stärke, Widerstand und menschlicher Solidarität. Die Gestaltung der Ausstellung folgt dieser Dramaturgie: Sie beginnt im Halbdunkel – als Spiegel der dunklen Erzählungen – und wird heller, je weiter man voranschreitet. Ausgestellte Objekte – etwa handgefertigte Holzspielzeuge, die als Dank für zusätzliche Essensgaben seitens der Bevölkerung überreicht wurden – zeigen, dass einige Luxemburger Hilfe leisteten.

Den Abschluss bildet eine „Familienwand“, die Fotos und Geschichten jener zeigt, die nach dem Krieg in Luxemburg oder anderswo ein neues Leben aufgebaut haben. Manche Aufnahmen entstanden im Studio und wurden in die Heimat geschickt, um Angehörige zu beruhigen. Andere zeigen Familienfeiern und alltägliche Momente – Bilder, in denen sie sich so zeigen, wie sie selbst gesehen werden wollten. Auch die Freundinnen Aleksandra Apryschko und Wera Winitschenko sind darunter – Hand in Hand in Luxemburg im Jahr 1944 nach der Befreiung.
Um dieser lange übersehenen Opfergruppe Sichtbarkeit zu verschaffen, hat die Gemeinde Düdelingen zudem zugestimmt, den ersten Erinnerungsort in der Nähe des ehemaligen Lagers Rellent zu errichten.
Die von Anton Stepine gestaltete Gedenktafel ist derzeit in der Ausstellung zu sehen und wird nach deren Abschluss im Mai 2026 am historischen Standort installiert – dort, wo neben sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern auch belgische Arbeitskräfte festgehalten wurden.
Wanderausstellung
Obwohl die Ausstellung auf Düdelingen und das Lager Rellent fokussiert, reicht diese Geschichte weit über den Süden hinaus. Da die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im ganzen Land eingesetzt wurden und das Ziel eine nationale Sichtbarmachung ist, lässt sich die OST-Ausstellung flexibel an lokale Gegebenheiten anpassen und an unterschiedlichen Orten in Luxemburg präsentieren.
Interessierte Institutionen sind eingeladen, sich mit dem CDMH in Verbindung zu setzen.
Infos
Adresse: CDMH, Gare-Usines, L-3481 Düdelingen
Öffnungszeiten: Donnerstag-Sonntag, 15-18 Uhr
Gruppenführungen in mehreren Sprachen: [email protected]


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