Freitag7. November 2025

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Reportage„Die Sündenböcke Russlands“: Arbeitsmigranten haben es nicht einfach in Putins Reich

Reportage / „Die Sündenböcke Russlands“: Arbeitsmigranten haben es nicht einfach in Putins Reich
Ausweiskontrolle in einem Moskauer Bahnhof: Vor allem „Nicht-Slawen“ müssen in Russland ihre Ausweispapiere immer parat halten Foto: Iago/Russian Look

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Seit dem Terroranschlag auf die Konzerthalle Crocus City Hall bei Moskau verschärft Russland laufend seine Gesetze gegen Arbeitsmigranten. Es trifft vor allem Taxifahrer, Kuriere, Bauarbeiter. Auch Kinder werden ausgesondert.

Seine Dokumente hat er in eine grünliche Mappe verpackt. Er hat sie immer dabei: den übersetzten und notariell beglaubigten Pass, den Führerschein, die örtliche Registrierung, die Arbeitsbewilligung, die Autoversicherung, den Mietvertrag, ja, auch die Eheurkunde und die Geburtsurkunden der drei Kinder, ebenfalls übersetzt und notariell beglaubigt. „Man muss auf alles gefasst sein“, sagt Mirsoali. Der Mittvierziger kommt aus Tadschikistan und fährt seit Jahren Taxi in Moskau. Er reagiert sehr vorsichtig auf Fragen von Fremden. Den Nachnamen will er nicht nennen, das will dieser Tage ohnehin kaum einer in Russland, wenn er von ausländischen Journalisten angesprochen wird. Die Menschen misstrauen allen und allem. Seit Russland den Krieg in der Ukraine begonnen hat und Russlands Präsident Wladimir Putin ein repressives Gesetz nach dem anderen unterschreibt, ist die Gesellschaft nahezu verstummt.

Nach einer kurzen Pause erzählt Mirsoali von seinem Leben in Russland. Er klingt enttäuscht. „Ich überlege, zu gehen. Zu viel Erniedrigung, zu viele Kontrollen, immer die Sorge, dass wieder ein neues Gesetz das Leben erschwert.“ Seit am Abend des 22. März 2024 vier Bewaffnete der Terrormiliz „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ (ISPK) die Konzerthalle Crocus City Hall bei Moskau stürmten und mehr als 140 Menschen töteten, sieht Russland in jedem Migranten einen potenziellen Kriminellen. In nahezu allen Regionen werden die Migrationsgesetze laufend verschärft. Kinder aus Migrantenfamilien, die „nicht genügend“ Russisch sprechen, dürfen keine Schule besuchen. Besuchen sie aber keine, will der Staat die Eltern des Landes verweisen.

Dass solche Gesetze gegen die russische Verfassung sind und auch gegen die Genfer Kinderrechtskonvention, scheint im Land kaum jemanden zu interessieren. Wer solche Sprachtests abnimmt, nach welchen Kriterien – ist auch nicht klar. Die Familien bleiben auf sich allein gestellt. Die Digitalisierung erschwert zudem ihr Leben, da das System der sogenannten „staatlichen Dienstleistungen“ (gosuslugi), über die die Bürokratie im Land mittlerweile läuft, primär für russische Dokumente gemacht wurde und bei ausländischen Passnummern, nicht vorhandenen Vaternamen bei Ausländern, nicht im Pass verzeichneten Geburtsorten stets ein unerwartetes Problem auftaucht, bei dem auch die Angestellten in den Behörden völlig überfragt sind.

Arbeitsverbote und billige Arbeitskräfte

Aufenthaltsbewilligungen werden nur mühsam erteilt, selbst wenn der Partner oder die Partnerin russischer Staatsbürger ist. In Moskau und Moskauer Umland soll in wenigen Wochen eine Pflicht-App für Migranten getestet werden, durch die die Behörden stets über den Aufenthaltsort des jeweiligen Menschen informiert sind. Seit Herbst 2024 finden sich in 51 der mehr als 80 Regionen in Russland Arbeitsbeschränkungen für Arbeitsmigranten. Mal dürfen sie nicht in Bildungseinrichtungen oder in der Gesundheitsversorgung arbeiten, mal nicht als Koch oder Bedienung im Gaststättengewerbe tätig sein. In den meisten Orten aber trifft es Taxifahrer und Kuriere.

Erst kürzlich hat die Stadt Sankt Petersburg ein Arbeitsverbot für Taxifahrer und Kuriere für Migranten mit dem sogenannten „Patent“ eingeführt. Das ist die Arbeitserlaubnis für alle (mit ein paar Ausnahmen), die visafrei nach Russland einreisen dürfen, vor allem für Menschen aus ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien. Das Verbot aber funktionierte keinen einzigen Tag. Die örtliche Wirtschaft schlug Alarm, die Stadtverwaltung sprach sogleich davon, dass die Einführung des Gesetzes „auf unbestimmte Zeit“ verschoben werde. Auch andere Regionen krebsen zuweilen zurück. Denn Arbeitsmigranten sind auch in Russland eine billige Arbeitskraft, auf die die Menschen im Land nicht verzichten wollen. Arbeitsmigranten, so heißt es in Statistiken, machten 50 bis 70 Prozent der Belegschaften bei Taxiunternehmen und Kurierdiensten aus. Fallen sie weg, steigen die Preise.

So werden wir immer behandelt, als Störenfriede, nicht als Menschen

Ein Doppelstaatler aus Tadschikistan

„Für die Leute hier sind wir immer die Sündenböcke. Für Drecksjobs sind wir immer gut genug. Wenn der Staat jemanden, wofür auch immer, bestrafen will, sind wir ebenfalls die Ersten, die in Verdacht geraten“, sagt der Moskauer Taxifahrer Mirsoali. Vor mehreren Jahren kam er aus einer Kleinstadt in Tadschikistan nach Russland, wollte hier Geld verdienen, Geld in die Heimat schicken, seinen Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen. Er ging erst auf den Bau, arbeitete dann als „Mädchen für alles“ in Privathaushalten („Gärtnern, allerlei Reparaturarbeiten, so was“), fing schließlich an, Taxi zu fahren. „Ein guter Job eigentlich, aber es wird immer schwieriger hier. Der Rubel ist schwächer geworden, die Kontrollen sind stärker.“

Der Alltagsrassismus ist tief verankert

Das Leben als „Nicht-Slawe“, wie die Russen sagen, zudem mit einem nicht russisch klingenden Namen, war in Russland – allerlei „Wir sind ein Vielvölkerstaat“-Sprüchen zum Trotz – noch nie einfach. Der Alltagsrassismus ist tief verankert in der russischen Gesellschaft. Nordkaukasier werden oft als „Schwarzärsche“ beschimpft. Die Menschen brüllen sie an und werfen ihnen vor, sie verstünden kein Russisch. Sie schreien und sagen: „Geh doch zu dir nach Hause!“ Zu Hause aber sind die Angeschrienen genauso in Russland wie die, die sie anschreien. Auch Nordkaukasier, Jakuten, Burjaten, Kalmücken und so viele andere, die angeblich nicht russisch aussehen, sind russische Staatsbürger und müssen sich täglich gegen rassistische Sprüche und Überprüfungen durch Polizisten wehren. Migranten aus Zentralasien haben es da ungleich schwerer. Offizielle Statistiken sprechen von etwa neun Millionen legalen und illegalen Migranten im Land, etwa ein Drittel von ihnen soll aus Tadschikistan kommen.

„Ich schufte und verhalte mich immer unauffällig. Aber das reicht nicht. Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft ich schon angehalten worden bin. Sie sind überall und könnten nach allem Möglichen fragen. Deshalb habe ich mein Dokumenten-Paket dabei. Das könnte mir jede Menge Ärger ersparen“, sagt Mirsoali. „Sie“, das sind die Polizisten, die in bester Racial-Profiling-Manier jeden Migranten und jede Migrantin auf den Straßen quer durch Russland anhalten und jedes mögliche Dokument verlangen könnten. Immer wieder kommt es zu Durchsuchungen von Hostels, wo Sicherheitskräfte Migranten vermuten. Erst vor wenigen Tagen nahmen Polizisten in Moskau 500 Migranten aus Zentralasien fest, 30 von ihnen wurden ausgewiesen, da sie sich illegal im Land aufgehalten haben sollen. Der Innenminister Wladimir Kolokolzew will „nur nützliche Migranten“, wie er kürzlich sagte, keine, die den Job verloren oder die Uni-Prüfung nicht bestanden hätten.

Telefon-Sim-Karte nur nach Überprüfung

Selbst für eine Telefon-Sim-Karte müssen sich nun alle Ausländer im Land – und seien sie Touristen – einer Überprüfung der Behörden stellen. Die, die im Land leben, brauchen dafür eine Versicherungskontonummer, die der Pensionsfonds ausstellt, sie müssen im digitalen „staatliche Dienstleistungen“-Register angemeldet sein und biometrische Daten bei einer Bank abgegeben haben. Ein neues Gesetz verpflichtet alle Ausländer dazu, sonst wird die vorhandene Nummer abgestellt, eine neue nicht erteilt. In speziellen Zentren, meist am Rande der Städte, müssen sie die Dokumente überprüfen lassen.

In einem solchen Zentrum in Moskau verteilen sich Hunderte von Menschen auf vier Etagen. „Hey, raffst du kein Russisch?“, brüllt eine Angestellte einen Usbeken an. Jedem hier wird gezeigt, dass er nicht willkommen ist. „So werden wir immer behandelt, als Störenfriede, nicht als Menschen“, sagt ein Doppelstaatler, der einst aus Tadschikistan kam, mittlerweile aber russischer Staatsbürger ist und seinen russischen Pass erneuern will. Wichtig für die Angestellte, dass er seinen Militärpass dabei hat und auch ja nicht vergessen habe, sich bei der Militärbehörde zu melden. Der Mann kramt in seiner Dokumentenmappe. „Man muss auf alles gefasst sein hier“, sagt er. Wie auch Mirsoali es sagte, der mit seinem gelben Taxi bereits zum nächsten Auftrag unterwegs ist.