Wieder muss Andrei seine Unterlagen vorbereiten, nachweisen, wann er welche Verträge abgeschlossen hat, wann welche Rechnungen nicht bezahlt worden sind. In diesen Tagen steht die nächste Sitzung an. Eine Sitzung für Geschädigte, weil wieder einmal ein Kunde Insolvenz angemeldet hat. Andrei hat 1,5 Millionen Rubel verloren (das sind umgerechnet knapp 25.000 Euro), er glaubt nicht mehr daran, dass er sie zurückbekommt. „Lauter Pleiten gerade und unser Staat lässt uns wie eh und je allein“, sagt der Moskauer Kleinunternehmer, der Kostüme und Masken verkauft.
So kurz vorm Neujahr, Russlands Familienfest schlechthin, samt Zügen von Karneval, läuft sein Geschäft gut. Vorerst. „Ich habe es satt, mich immer wieder auf neue Situationen einzustellen, weil unsere Regierung immer größeren Bockmist baut. Ich will einfach normal geschäften. Stattdessen denke ich immer ernsthafter darüber nach, die Läden aufzugeben.“
Andrei will nicht unter seinem echten Namen in einer Zeitung erscheinen. Will auch keine Details über sein Unternehmen bekannt geben, das er seit mehr als 20 Jahren am Rande Moskaus betreibt. Er sei einfach müde. Müde von den Kriegsgräueln, die sein Land in der Ukraine begeht, müde auch von den Diskussionen mit manchen seiner Angestellten, die den Krieg – offiziell „militärische Spezialoperation“ genannt – befürworten, müde von den ständigen Umstellungen und der Flexibilität, die er an den Tag legen muss, weil Sanktionen des Westens gegen Russland ein „vernünftiges Arbeiten“ unmöglich machten. „Seit 2014 läuft es nicht besonders gut für unsere Wirtschaft, seit dem 24. Februar sind wir verloren. Aber der Staat und so viele in meiner Umgebung feiern sich für ihre angebliche Stärke. Jubeln den Präsidenten hoch. Warum können wir nicht einfach normal leben?“
Seine Unzufriedenheit kann er kaum öffentlich äußern, der repressive Staat versetzt die Menschen in Angst, nimmt ihnen zuweilen alles. Andrei will nicht auch noch das verlieren, was er hat. Also sucht er nach Wegen, wie er seine Waren aus dem Ausland bezahlen kann – die Briten habe er in mehreren persönlichen Gesprächen angebettelt, das Geschäft mit ihm nicht zu beenden, die Chinesen hätten ein Rubel-Konto für ihn eingerichtet, für Europäer habe er ein Konto bei einer russischen Bank eröffnet, die noch nicht vom Swift-System ausgeschlossen ist. „Die Rezession macht mir keine Angst. Wenn man ohnehin ständig in Angst lebt, alles zu verlieren, interessiert eine Rezession nicht mehr.“
Resignation und Schönfärberei
Resigniert ist auch Viktor. Auch er redet in Zeiten des Krieges nicht besonders gern über seine Geschäfte, wie so viele Privatunternehmer in Russland. „Es ist alles viel schwieriger geworden. Wir leben in einer Ungewissheit, die wir gar nicht einschätzen können“, sagt der Holzhändler aus Moskau. Ja, sie hätten die 1990er überstanden, die Krise 1998 und die Krise 2008, auch die Krise 2014. „Die jetzige Dimension aber ist völlig unüberschaubar“, sagt Viktor. Manche seiner Angestellten arbeiteten nun aus dem Ausland. Die ersten seien bereits im März gegangen, noch im Schockzustand wegen Russlands Überfall auf die Ukraine. Manche gingen im September, weil sie nicht eingezogen werden wollten. Manche meldeten sich bereitwillig bei den Einberufungsämtern. Sie seien nun zehn Menschen weniger in der Firma. „Wir wollten in diesem Jahr mit neuen Produkten durchstarten, das ist nun auf Eis gelegt, vielleicht für immer.“
Der russische Staat redet sich die Lage schön, auch in der Wirtschaft. Zuständige sprechen zwar von „Turbulenzen“ und „nie da gewesenem Druck aus dem Westen“, aber auch von „beschleunigter Anpassung“: mittels sogenannter „technologischer Souveränität“, also eigenen Produkten, mögen sie westlichen Waren technisch auch weitaus hinterher sein oder mittels dem „Parallel-Import“, einer Grauzone, die es möglich macht, Produkte über Drittstaaten zu beziehen. Maxim Reschetnikow, Russlands Minister für wirtschaftliche Entwicklung, sieht den Höhepunkt der Krise bereits als „überwunden“ an. Um der Bevölkerung seine Schönfärberei schmackhaft zu machen, verteilt der Kreml Geld: an Familien, Rentner, Staatsangestellte. Das Budget für das kommende Jahr beschrieb der Parlamentssprecher Wjatscheslaw Wolodin dennoch als „das schwerste der vergangenen Jahre“. Moskau prognostiziert ein Minus von umgerechnet 50 Milliarden Euro.
Die Kraft reicht für das tägliche Überleben
Die Armut hält das Putin-System stabil. Die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch von der Moskauer Staatsuniversität meint, die Menschen im Land pflegten jahrzehntelang Vermeidungsstrategien. „Sie finden sich mit allem Schlechten einfach ab“, sagt sie. Unterwürfigkeit und Atomisierung brächten kaum Nachfrage nach Veränderungen, Massenproteste seien so unmögllich. Der Staat hinke der fortschrittlichen Gesellschaft, die vor allem in den Großstädten lebe, hinterher und sei ein „Staat der Peripherie“, wie sie es in einem YouTube-Interview mit der russischen Journalisten Katerina Gordejewa nennt. Die Großstädte verlören an menschlichem Kapital, weil viele ins Exil gingen, in den mittlereren Städten werde die Industrie verkleinert, in den Kleinstädten und Dörfern sei die Lage noch düsterer. Doch für Unmutsäußerungen fehle die Kraft, die Menschen kämpfen ohnehin täglich ums Überleben.
Der Staat veröffentlicht seit dem Frühjahr keine Statistiken mehr, Subarewitsch arbeitet mit Hochrechnungen. „Wir haben den Grund erreicht und liegen auf diesem Grund“, sagt sie. An Arbeitslosigkeit aber werde das Land nicht leiden. „Wenn Technologie fehlt, braucht die Wirtschaft Hände.“ Der Staat werde die ständige Verschlechterung der Lage auf diese Weise als Aufschwung verkaufen können.
Auch der Unternehmer Andrei kennt diese russische „Na awos“-Haltung, irgendwie werde es schon gehen. Die Schicksalsergebenheit halte das System aufrecht. Er könne dabei nur noch ungläubig den Kopf schütteln – „und Tag und Nacht weiterarbeiten, nicht dass meine Firma als nächste pleite geht.“
		    		
                    De Maart
                
                              
                          
                          
                          
                          
                          
                          
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