Was sind die wichtigsten Projekte der neuen Regierung? Ein Blick in das Koalitionsabkommen verrät, was Blau-Rot-Grün in den nächsten Jahren vorhat.
Nicht einmal acht Wochen nach der Wahl stehen die Regierung und das Koalitionsprogramm. Die wichtigsten Aspekte des Abkommens, die auch am kommenden Dienstag von Premier Bettel während der Vorstellung des Regierungsprogramms im Parlament wohl ausgiebig erklärt werden, haben wir auf vorliegender Doppelseite zusammengestellt. Von kostenloser Kinderbetreuung über einen höheren Mindestlohn bis zur konsequenten Digitalisierung des Landes und seiner Verwaltungen, von mehr Klimaschutz über Steuerreform, kostenlosen öffentlichen Verkehr und ein ehrgeiziges Investitionsprogramm bis hin zur Legalisierung von Cannabis reichen die Vorhaben der Koalition.
Von Robert Schneider, Yves Greis und Pol Schock
Mindestlohn steigt ab 1. Januar 2019
Eine der „roten Linien“, die sozialpolitisch von der LSAP vorgegeben wurden, betrifft den Mindestlohn, der ab 1. Januar 2019 um 100 Euro netto steigen wird, auch wenn die Summe wohl aus administrativen Gründen erst in den kommenden Monaten rückwirkend ausgezahlt werden kann. Dies betrifft sowohl den nicht-qualifizierten als auch den qualifizierten Mindestlohn. Dabei wird auch untersucht, ob die sozialen Unterstützungsmaßnahmen für die Betroffenen durch das erhöhte Einkommen noch weiterhin anfallen werden oder eventuell Obergrenzen überschritten werden. In diesem Fall sollen die Schwellen angehoben werden, damit niemand nach der Reform weniger Geld erhält als vorher; immerhin geht es bei der Maßnahme auch um die Annäherung von Reich und Arm. Von der Lohnerhöhung, deren Kosten sich die Arbeitgeber und der Staat teilen sollen, erhofft sich die Regierung u.a. Auswirkungen auf die Gehaltsgruppen, die über dem Mindestlohn liegen, also mehr in den Lohntüten für viele Geringverdiener… Dies könnte demnach auch einen positiven Effekt auf die Binnennachfrage und so auf die gesamte Wirtschaft haben.
Kostenloser öffentlicher Verkehr
Bereits jetzt machen sich die Gewerkschaften Sorgen um die Mitarbeiter von Eisenbahn und Busbetrieben, die künftig keine Fahrkarten mehr kontrollieren müssen. Im ersten Trimester 2020 soll eine spektakulär wirkende Maßnahme der Regierung umgesetzt werden: Der gesamte öffentliche Personenverkehr soll ab dann kostenlos funktionieren. Dass die steuerliche Kilometerpauschale „angepasst“ werden soll, wird von einigen der Koalitionäre als Gegenfinanzierung der Maßnahme bezeichnet, für andere ist dieser Schritt unabhängig hiervon zu sehen. Auch über den sozialen Charakter herrscht wohl noch Klärungsbedarf: Félix Braz („déi gréng“) betonte mehrmals, die Maßnahme habe keinen sozialen Charakter, andere sehen dies anders. Immerhin soll die reduzierte Kilometerpauschale selektiv gehandhabt werden und jene, die keinen guten Anschluss an das öffentliche Verkehrsnetz haben, auch weniger treffen. Die Mobilität soll insgesamt durch die Förderung von Elektro-Fahrzeugen, den Ausbau von Zug- und Busverkehr sowie der Tramlinien in und um die Hauptstadt CO2-ärmer werden.
Digitalisierung
Das Thema Digitalisierung durchzieht das Koalitionsabkommen. Die Digitalisierung bietet laut Regierung große Chancen, aber auch Risiken. Über die Veränderungen, welche die digitale Revolution mit sich bringt, soll es eine gesellschaftliche Debatte geben. Die Digitalisierung soll u.a. genutzt werden, um Verwaltungsvorgänge leichter zu gestalten. Bürger und Unternehmen, die mit Behörden zu tun haben, sollen die Möglichkeit erhalten, digital nachzuverfolgen, wo und bei wem sich ihre Akte gerade befindet. Die Bürger sollen Informationen in Zukunft noch schneller finden können. Für Menschen, die diese Instrumente nicht nutzen können oder wollen, soll jedoch der Papierweg beibehalten werden. Die neue Regierung will darüber hinaus offene Formate und Open-Source-Software fördern, insbesondere in den Verwaltungen. Nachdem ein Pilotprojekt ausgewertet wurde, soll der Gebrauch von „Chatbots“ in den Verwaltungen ausgebaut werden. Diese Computerprogramme können Fragen beantworten und eine „Unterhaltung“ simulieren. Sie sollen den Bürgern helfen, die Informationen, die sie suchen, schneller zu finden.
Referendum und Parlamentskampagne
Die Regierung wird einen neuen Anlauf zur Verfassungsreform nehmen und erneut ein Referendum organisieren. Da eine Zwei-Drittel-Mehrheit für eine konstitutionelle Änderung notwendig ist, wird versucht, die CSV mit im Reformboot zu halten. Auch diesmal soll die Bevölkerung anstelle einer zweiten Lesung im Parlament über die Verfassung abstimmen. Ein Referendum soll nach den Europawahlen angehalten werden. Die entsprechende Informationskampagne soll erneut vom Parlament organisiert werden. Auch das Wahlgesetz soll dem Koalitionsprogramm zufolge im Rahmen dieser konstitutionellen Reform unter die Lupe genommen werden und Wege für eine stärkere demokratische Beteiligung von Nicht-Luxemburgern gesucht werden. Auch die Anhäufung von politischen Mandaten soll laut Programm durch noch zu findende Maßnahmen künftig verhindert werden. Institutionell sollen ebenfalls die Rolle und die Aufgaben des Mediateurs überprüft und gegebenenfalls neu geregelt werden. Ganz allgemein will die Koalition die Bürgerbeteiligung stärken. So ist in dem Abkommen vorgesehen, via Gesetz ein legislatives Initiativrecht der Bürger zu ermöglichen.
Gratis-Kinderbetreuung
Die neue Regierung will die familienpolitischen Leistungen – auch im Sinne einer besseren Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben – ausbauen. So sind mitunter eine Reform des Systems der „Chèques-service accueil“ und eine kostenlose Betreuung von Kindern im Grundschulalter in den „Maisons relais“ während der Schulperioden vorgesehen. Eine weitere Maßnahme im Interesse der Kinder und somit der Familien ist die Einführung des Busangebots „Clubs enfants“ (Kindervereinsbus). Hiermit sollen die Kleinen von den Betreuungseinrichtungen zu Sport- oder Kulturzentren gebracht werden, was die Eltern erheblich entlasten und auch das Vereinsleben fördern dürfte. Die öffentliche Schule soll außerdem gestärkt werden. So soll der versprochene Bildungstisch, der alle an der Schule Beteiligten versammeln soll, realisiert werden. Weitere Nachhilfekurse sollen indes besonders jene Schüler fördern, denen zu Hause in Bezug auf die schulische Entwicklung nicht geholfen werden kann oder wird. Damit soll die Chancengleichheit in der Schule verbessert werden.
Betriebssteuer
Zu einer allgemeinen Reduktion der Betriebssteuer auf 21 Prozent, wie es der DP vorschwebte, wird es nicht kommen. Aktuell liegt der offizielle Satz bei 26 Prozent. Die neue Regierung plant allerdings eine Senkung der Steuerlast um 1 Prozent für alle Unternehmen. Zudem sollen nun auch größere Betriebe vom reduzierten Steuersatz profitieren. Laut Vertrag sollen Unternehmen mit einem Jahresgewinn von bis zu 175.000 Euro Anspruch auf den reduzierten Satz von 15 Prozent haben.
Cannabis soll legal werden
In den nächsten fünf Jahren will die Regierung ein Gesetz ausarbeiten, um Cannabis zu legalisieren. Ziel ist es, den Anbau, Kauf, Besitz und Konsum von Cannabis für erwachsene Einwohner Luxemburgs zu erlauben. Die Regierung will so verhindern, dass Cannabis-Konsumenten auf dem Schwarzmarkt einkaufen. Auch will sie physische und psychische Gefahren des Cannabis-Konsums bekämpfen. In ihrem Koalitionsvertrag hält die neue Regierung fest, dass die Produktionskette von Cannabis unter staatlicher Kontrolle stehen und auf diese Weise die Qualität des Produktes gewährleistet werden soll. Luxemburg hat erst vor kurzem die Verwendung von Cannabis zu medizinischen Zwecken unter Auflagen erlaubt. So müssen Ärzte, die es verschreiben wollen, zuerst eine Fortbildung machen. Des Weiteren dürfen die Präparate nur in Krankenhausapotheken verkauft werden. Anschließend forderte eine sehr erfolgreiche Petition die Legalisierung des Cannabiskonsums auch außerhalb des medizinischen Bereiches und erzwang eine Diskussion im Parlament. Vor allem die ADR steht einer Legalisierung kritisch gegenüber. Die Forschung weise immer wieder darauf hin, dass der Konsum gesundheitliche Gefahren berge.
Reform der Gemeinden
Die Reorganisation des Innenministeriums soll laut Koalitionspapier weitergetrieben werden. Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten sollen noch transparenter werden. Das Gesetz über die Gemeinden soll rundum erneuert werden. Dan Kersch bezeichnete diese Reform als eine der großen Herausforderungen seiner Nachfolgerin. Die Gemeinden sollen bei der Organisation von zivilen Zeremonien unterstützt werden – u.a. Hochzeiten und Beisetzungen. Die Befugnisse der „Agents municipaux“ sollen ausgebaut werden. Die neue Regierung will außerdem die Kommunen stärker zur Verantwortung ziehen, was den Bau von Wohnungen anbelangt. Die Rolle der Gemeinden beim sozialen Wohnungsbau und beim Bau von günstigen Wohngebäuden soll bei der Verteilung kommunaler Finanzmittel stärker berücksichtigt werden. Freiwillige Gemeindefusionen sollen weiterhin unterstützt werden. Aber: Keine Gemeinde soll fusionieren, ohne dass die Bürger dem vorher mittels Referendum zugestimmt haben.
Individualbesteuerung
Ein Kernpunkt des Abkommens ist die Aufhebung der Steuerklassen. Ziel ist es, eine „classe unique“ zu schaffen, jenseits von Steuerklasse 1, Ehegattensplitting und Steuerklasse für Witwen. Jeder soll individuell besteuert werden, lediglich die Anzahl der Kinder soll als weitere Grundlage dienen. Wie genau diese Königsreform umgesetzt werden soll, ist ebenso unklar wie der Kostenpunkt sowie der Zeitpunkt der Umsetzung. Im Text steht lediglich, dass es zu einer Übergangsphase kommen soll, damit es kurzfristig keine Verlierer geben wird. Steuerexperten bezweifeln hingegen, ob sich die Reform aus technischen Gründen überhaupt umsetzen lässt.
Infrastrukturprojekte
Die Regierung listet gleich in zwei Anhängen wichtige Infrastrukturprojekte auf. Zum einen neue Schulen, zum anderen Transportinfrastruktur: Bahn-, Tram- und Straßenprojekte. Die Tramstrecke etwa soll planmäßig bis Cloche d’Or, Hollerich wie auch zum Findel erweitert werden. Die Bahnstrecken von Luxemburg nach Bettemburg, Richtung Syren und Petingen sollen neben vielen anderen Projekten erweitert werden. Auch das Straßennetz soll verbessert werden – so soll die A3 dreispurig werden. Daneben soll die „Park & Ride“-Infrastruktur weiter ausgebaut werden. Zudem ist geplant, das Radwegenetz um 18 weitere Strecken zu vergrößern. Im Vertrag stehen auch etliche Umgehungsstraßen sowie der Ausbau oder die Renovierung mehrerer Lyzeen.
Mehr freie Tage
Laut Koalitionsabkommen will die Regierung einen neuen Urlaubstag einführen. Die Mindestanzahl an Urlaubstagen, die einem Arbeitnehmer zusteht, soll von 25 auf 26 Tage erhöht werden. Doch was ist mit Arbeitnehmern, die laut ihrem Kollektivvertrag bereits mehr als 25 Urlaubstage haben? Sie werden vorerst nicht von dieser Maßnahme profitieren können. Sie müssen darauf vertrauen, dass es ihrer Delegation bei den nächsten Kollektivvertragsverhandlungen gelingen wird, einen weiteren Urlaubstag auszuhandeln. Daneben will die Regierung den Europatag zum gesetzlichen Feiertag erklären. Der Europatag wird jährlich am 9. Mai gefeiert. Am 9. Mai 1950 hatte Robert Schuman in einer Rede in Paris die Gründung einer Produktionsgemeinschaft für Kohle und Stahl vorgeschlagen. Daraus ging später die Europäische Union hervor. Luxemburg ist nach dem Kosovo das zweite Land, in dem der Europatag ein gesetzlicher Feiertag wird.
Polizei und Sicherheit
Die luxemburgische Polizei soll in den nächsten Jahren modernisiert werden. Laut Koalitionsabkommen soll die Polizei mehr Personal erhalten, mehr Ausrüstung und mehr rechtliche Mittel. Ziel der Regierung ist es, präventiv für die Sicherheit der Bürger zu sorgen und Verstöße aufzuklären. Zwar sei die Zahl der Verstöße in Luxemburg seit Jahren rückläufig. Allerdings nicht allerorts im gleichen Maße. Die Polizei soll die finanziellen Mittel erhalten, um sich digital auf den neuesten Stand zu bringen, zum Beispiel mit mobiler IT-Ausrüstung. Darüber hinaus soll das Online-Angebot der Polizei unter dem Schlagwort „E-Kommissariat“ ausgebaut werden, hält die Regierung im Koalitionsabkommen fest. Die Regierung denkt weiter über die Einführung von sogenannten „Bodycams“ und Kameras in den Polizeifahrzeugen nach. Sollten diese eingeführt werden, müsse das Gesetz einen präzisen Rahmen stecken, was den Umgang mit persönlichen Daten angeht, hält die Regierung im Koalitionsabkommen fest. Die Polizeireform soll in der neuen Legislaturperiode umgesetzt werden.
Natur und Umwelt
Luxemburg soll bis zum 31. Dezember 2020 glyphosatfrei werden. Das hoch umstrittene Unkrautvernichtungsmittel steht im Verdacht, krebserregend zu sein. Die EU-Kommission hatte die Zulassung allerdings noch 2017 um fünf Jahre verlängert. Luxemburg plant demnach ein nationales Verbot. In der vergangenen Legislaturperiode hatte Landwirtschaftsminister Fernand Etgen stets betont, dass solche nationalen Alleingänge nicht möglich seien. Bis 2025 sollen zudem 20 Prozent der luxemburgischen Landwirtschaft biologisch sein. Bis 2050 soll die Landwirtschaft zu 100 Prozent auf biologische Produktion umgestiegen sein. Ein neues Agrargesetz wird im Text jedoch nicht explizit angekündigt. Die Fuchsjagd bleibt indes bis auf Weiteres verboten. Zudem soll sich das Großherzogtum progressiv vom Tanktourismus lösen. Félix Braz sprach bei der Vorstellung des Koalitionsabkommens von einem „graduellen Ausstieg“. Die Spritpreise sollen allerdings nur um wenige Cent angehoben werden, wie am Donnerstag auch der neue Minister für Energie, Claude Turmes, bestätigte. Im Koalitionsabkommen bekennt sich Luxemburg auch zu den Pariser Klimazielen mitsamt einer klimaneutralen Bilanz bis 2050.
Wohnungsbau und Immobilien
Sie gelten als die Achillesferse Luxemburgs: Wohnungsbau und Immobilienpreise. Seit Jahren geht in den Wahlprogrammen der unterschiedlichen Parteien von „großen Wohnungsbauoffensiven“ die Rede. Eine Antwort auf das Problem der hohen Nachfrage bei geringem Angebot und daraus resultierenden hohen Preisen konnten sie nicht finden. Nun haben „déi gréng“ zum ersten Mal das Ressort „Logement“. Und die Regierung will das Problem der Wohnungssituation mit unterschiedlichen Maßnahmen angehen: Erhöhung des „bëllegen Akt“ von drei Prozent (liegt aktuell bei 20.000 Euro), neues Gremium für Bauland, einen „Pacte Logement 2.0“ sowie einen Fonds für Bauland. Zudem soll das Mietgesetz reformiert werden, um die Rechte der Mieter zu stärken. Vor allem soll nun jedoch endlich nach mehr als 75 Jahren die Grundsteuer reformiert werden. Aktuell werden die Einheitswerte auf einer Basis aus dem Jahr 1941 berechnet. Durch die Reform wird die Steuer steigen, das generiert nicht nur mehr Einnahmen, sondern soll vor allem Anreize setzen, damit Grundbesitzer ihr Land bebauen. Staatliche Eingriffe wie erhöhte Erbschaftsteuer oder auch Enteignungen sind jedoch nicht vorgesehen.
De Maart
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können