Den Tönen auf der Spur: Graeme Lawsons faszinierendes Buch über Musik-Archäologie

Als Howard Carter 1922 im Tal der Könige das Grab Tutanchamuns öffnete, fanden sich neben der weltberühmt gewordenen goldenen Totenmaske auf der Mumie des Pharaos und jeder Menge weiterer Kostbarkeiten auch ein Satz Trompeten aus Silber und Bronze. In seinem faszinierenden Buch „Soundtracks. Auf den Spuren unserer musikalischen Vergangenheit“ kommt der Archäologe Graeme Lawson eher am Rande auf diese spektakuläre Entdeckung zu sprechen. Zum einen, weil er seine Darstellung gegenläufig zu einem imaginären Zeitstrahl konzipierte. Also von der Neuzeit mit der Entwicklung erster „Festkörperspeichermedien“ wie dem Pianola oder dem Phonographen, durch die Jahrtausende zurück bis zu Überbleibseln von Knochenflöten aus dem Spätpaläolithikum vor zwölf- bis sechzehntausend Jahren. Zum anderen aber auch, weil die protzigen Musikinstrumente eines altägyptischen Herrschers zur eigentlichen Aussage seiner Publikation eher wenig beitragen.
Was mehr zählt, sind Hinweise, die Rückschlüsse auf den alltäglichen Gebrauch von Utensilien zur Klangerzeugung ermöglichen. Dutzendweise beschreibt Lawson anhand der Werkstatt eines Harfenbauers in Oxford, den Metallresten eines Daumenklaviers aus Groß-Simbabwe oder den zerbrochenen Blumenflöten aus dem Aztekenreich in Mexiko, dass Musik zu allen Zeiten und in allen uns bekannten Kulturen gespielt wurde. Doch damit nicht genug!

Denn „wir wissen, dass es in den verschiedenen Teilen der Welt ausgeprägte Traditionen musikalischen Wissens und musikalischer Bildung gab, und innerhalb dieser Traditionen gab es Menschen, die sowohl im Schreiben wie im Lesen von ‚Musik‘ geübt waren“. Erste Formen von Notationssystemen finden sich in frühmittelalterlichen Klöstern wie in der Bibliothek des Vatikans und, noch einmal tausend Jahre früher, auf Säulenresten an der kleinasiatischen Ägäisküste. Und – man mag es kaum glauben – noch heute findet, z.B. beim Erlernen einer Bassgitarre, eine uralte Instrumentaltabulatur Anwendung, bei der auf quadratischen Rastern die Fingerpositionen zur Erzeugung von Tönen bzw. Akkorden dargestellt werden.
In wunderbar leichtem Plauderton kündet Graeme Lawson davon, wie weit die Musik-Archäologie bereits gediehen ist. Welche Oden an den Herrscher mit den silbernen und bronzenen Trompeten aus Tutanchamuns Grab geschmettert wurden, bleibt allerdings auch weiterhin rätselhaft.
Graeme Lawson: Soundtracks. Auf den Spuren unserer musikalischen Vergangenheit. Piper Verlag, München 2025.
Mit subjektiver Wucht: Zur Wiederentdeckung der „Schmähprosa“ von Andreas Banaski/Kid P.

Für die einen war er der Erfinder des Popjournalismus, für die anderen hat er die seriöse Musikkritik boulevardisiert: Bis heute scheiden sich an Kid P. alias Andreas Banaski (1957-2021) die Geister. Provokant, leidenschaftlich, Gepflogenheiten missachtend bis zu einem Grad, wo ihn die Kritisierten als Nestbeschmutzer beschimpften und Schläge androhten. Erika Thomalla hat unter dem Titel „Die Wahrheit über Kid P.“ eine Reihe seiner Arbeiten u.a. für Musikzeitschriften wie Sounds und Spex, die längst Geschichte sind, zusammengestellt und lud Mitstreiter wie Diedrich Diederichsen, Clara Drechsler oder Hans Nieswandt dazu ein, das Besondere an Banaskis einflussreicher „Schmähprosa“ herauszustellen.
Auf den ersten Blick sprühen Banskis/Kid P.’s Kritiken und Reiseberichte nur so vor Einfällen und bereiten großen Lesespaß. Zuweilen könnte jeder zweite Satz als Motto über ganzen Aktionstagen stehen – Kostprobe: „Wem nutzt schon Kunst (abstrakt und wertvoll)“. Und gleich danach: „Gute Musik muss man gebrauchen können“. Wie wahr! Doch so manches muss heute erklärt werden, wenn es nicht gleich geschwärzt oder gestrichen wird.
Diffiziler Wortgebrauch
Der Gebrauch des N-Wortes etwa, das damals gerade noch als Provokation durchging, ist mittlerweile Teil einer No-go-Area, die man aber schon beschreiten muss, um zumindest in Ansätzen zu verstehen, was Elena Beregow in ihrem lesenswerten Beitrag als Kid P.’s „Programmatik des tiefenlosen Gefühls“ bezeichnet. Relativ unverfänglich kann man ihr in dessen Plattenkritik von „Non-Stop Erotic Cabaret“, dem Albumdebüt von Soft Cell aus dem Jahr 1981, begegnen, wo der Rezensent enthusiasmiert: „Jeder Song ist ein kleines Hollywood-Melodram mit Licht/Schatten, Tränen, Eleganz, greller Schminke und großen Gefühlen“. Gruppen wie Soft Cell, mit der Herkunft ihrer Mitglieder aus der Arbeiterklasse und mit einem Stilempfinden gesegnet, das man davor allenfalls bei Bryan Ferry von Roxy Music wahrnehmen konnte, waren nicht nur Favoriten von Kid P.
Eine ganze Kritikergeneration, zu der er mit Sicherheit gezählt werden muss, war von glänzenden bzw. (noch bezeichnender) spiegelnden Oberflächen fasziniert. Echt ist nur eine weitere Form von Verfertigung. So wie falsch, wie Wahrheit oder Lüge – und wer nach der Authentizität von Gefühlen in der Unterhaltungskunst sucht, dem ist eh nicht mehr zu helfen.
Ernüchterung

Gnadenlos gemein und mit zielgenauem Witz wird von Banaski/Kid P. in Grund und Boden geschrieben, was sich dennoch als authentisch gibt (Punks!) oder seine Verlogenheit hinter den aktuellen Moden verbirgt. Haschrauchende Hippies, die auf New Wave machen, waren die Allerschlimmsten. Dagegen wurden Acts der Stunde wie The Human League, ABC oder die bereits genannten Soft Cell in den Himmel gelobt, und mit Sängerinnen wie Kim Wilde, Debbie Harry, oder der französischen Sängerin Lio (deren zerknittertes Konterfei den Buchumschlag von „Die Wahrheit über Kid P.“ ziert) aufs Schild einer neuen, auf Affirmation setzenden Kritik gehoben.
Logisch, dass nach den Dexys Midnight Runners der Elan bei dieser Kritikergeneration merklich nachließ – denn wirklich alle hatten spätestens dann kapiert, dass sie auch nur Rädchen in einer Verwertungsmaschinerie sind, die heute verkaufen will, was schon morgen wieder vergessen sein soll (um übermorgen das Alte von vorgestern als heißen Scheiß noch einmal unter die Leute zu bringen). „Wie alles begann“ – der Satz könnte als weitere Überschrift über dem wirklich auch grafisch sehr gelungenen Buch von Erika Thomalla stehen, das, man mag es kaum noch hervorheben, nicht zuletzt auch kulturhistorisch eine wichtige Publikation ist.
Erika Thomalla (HG), Andreas Banaski: Die Wahrheit über Kid P. Junius Verlag, Hamburg 2025.
De Maart
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