Meron Mendel über Nahostkonflikt„Die Menschen in Israel haben eine bessere Regierung verdient“

Meron Mendel über Nahostkonflikt / „Die Menschen in Israel haben eine bessere Regierung verdient“
Familienangehörige von israelischen Hamas-Geiseln am Vorabend des letzten Tages des jüdischen Fests Chanukka in Tel Aviv  Foto: AFP/Ahmad Gharabli

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Kein Konflikt polarisiert Europa und die westliche Welt so stark wie der Nahostkonflikt. In vielen Diskussionen gibt es nur ein Entweder-oder, proisraelisch oder propalästinensisch. Zeit für ein Gespräch mit einem, der diese Lagerbildung überwinden will: Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank.

Tageblatt: Herr Mendel, Sie kommen gerade aus Ihrer Heimat Israel zurück. Das ZDF hat Sie bei dieser Reise begleitet und eine sehr persönliche, berührende Reportage darüber gedreht. Was hat Sie dazu bewegt, diesen Einblick zu gewähren?

Meron Mendel: Seit zwei Monaten wird intensiv über die Situation im Land diskutiert. Der Blick ist aber oft sehr distanziert. Die Empathie fehlt. Für Menschen auf beiden Seiten. Ich glaube, Empathie kann man nicht verordnen. Sie entsteht, wenn man einen Einblick bekommt in die Lebensrealitäten von Menschen vor Ort. Und die leben in einer wirklich schwierigen Situation. Nicht erst seit dem 7. Oktober. Für die Menschen in Israel gibt es schon seit Beginn des Jahres einen Einschnitt. Der Kampf um die israelische Demokratie (Anm. d. Red.: die Massenproteste gegen die Justizreform der Regierung Netanjahu), der ab dem 7. Oktober abrupt zu einem Kampf um die eigene Existenz wurde. Das hat die Menschen sehr geprägt. Meine Motivation war, diesen komplexen und tiefgehenden persönlichen Einblick zu ermöglichen, damit das Gespräch hier in Europa nicht nur in einem Schwarz-und-Weiß-Denken geführt wird. Der Film ist ein Plädoyer für Empathie und eine Aufforderung, Vieldeutigkeit zuzulassen.

Was war bei dieser Reise anders?

Ich bin einem Land begegnet, das völlig anders ist. Ich war ein Jahr lang nicht dort. Man spürt den Unterschied schon im Flughafen. Er ist leergefegt, überall hängen die Fotos der Geiseln. Man ist sofort überwältigt von diesen Bildern von kleinen Kindern und alten Menschen, deren Schicksal ungewiss ist. Und dann sind da die Begegnungen mit Menschen, die trotz allem, was passiert ist, den Kampfgeist und die Hoffnung nicht aufgegeben haben. Ich meine Kampfgeist nicht nur im militärischen Sinne, sondern auch die Entschlossenheit, dass eine Zukunft möglich ist, in der Juden und Palästinenser friedlich miteinander leben.

Besorgt über die Eskalation: Meron Mendel
Besorgt über die Eskalation: Meron Mendel Foto: privat

Haben Sie ein Beispiel?

Ich habe eine langjährige und sehr enge Freundin von mir besucht, die eine Grundschule leitet, an der Palästinenser aus Israel und jüdische Israelis zusammen zur Schule gehen und zweisprachig unterrichtet werden, Arabisch und Hebräisch. Der Ort ist wie eine Oase. Draußen ist der Konflikt und in dieser Schule ist eine große Harmonie und vor allem Indifferenz, aus welcher Familie ein Kind kommt oder welche Muttersprache es spricht. Zu sehen, dass das menschliche Miteinander in solchen Zeiten nicht nur weitergeht, sondern sogar gestärkt wird, ist sehr beeindruckend.

Wie haben Sie die allgemeine Stimmung im Land zwischen israelischen Palästinensern und jüdischen Israelis erlebt?

Palästinenser mit einer israelischen Staatsbürgerschaft sind aktuell in einer sehr schwierigen Situation. Zum einen sind sie genauso vom Massaker am 7. Oktober betroffen. Es wurden auch palästinensische Israelis ermordet. Es wurden auch palästinensische Israelis verschleppt von der Hamas, zum Beispiel die Beduinen. Zum anderen haben sie eine große Verbundenheit und Solidarität mit ihren Geschwistern in Gaza. Sie leiden mit, wenn sie hören, was dort aktuell passiert. Das ist eine seelische Zerrissenheit, die unvorstellbar ist. Und das in einer Situation, in der eine Gesellschaft, die sowieso schon sehr polarisiert ist, auch noch in einem Kriegszustand ist. Ihre Loyalität zum Staat Israel wird ständig hinterfragt und genau beobachtet. Ich war sehr beeindruckt von den palästinensischen Israelis, mit denen ich gesprochen habe, wie sie in dieser unmöglichen Situation standhaft bleiben. Wie sie ihre Loyalität zum Staat Israel und zugleich ihre Solidarität mit den Zivilisten in Gaza klar und deutlich machen.

Zur Person

Prof. Dr. Meron Mendel ist ein israelisch-deutscher Publizist, Historiker und Pädagoge. Er wurde 1976 in Ramat Gan geboren und wuchs im Kibbuz Mashabe Sade auf. Nach seinem Wehrdienst in der israelischen Armee studierte er in Haifa und München. Mendel ist Professor für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher, u.a. des Sammelbandes „Frenemies – Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen“ und „Über Israel reden – Eine deutsche Debatte“.

Eine Loyalität zum Staat Israel bedeutet nicht zwangsläufig Loyalität zu dessen Regierung. Wie schätzen Sie die politische Stimmung im Land ein gegenüber der Regierung Netanjahu?

Eins vorweg: Ich habe meinen Freundeskreis und meine Familie besucht. Da hätte man auch vor dem 7. Oktober keinen einzigen Netanjahu-Unterstützer gefunden. Umso größer ist natürlich nach dem 7. Oktober die Wut auf die Regierung. Nicht nur über das militärische Versagen, sondern auch über das politische. Die Tatsache, dass der Staat nach dem 7. Oktober nicht gut funktioniert hat. Die Hilfe für die Menschen, die evakuiert wurden aus dem Grenzgebiet zu Gaza und dem Libanon, wurde und wird zum großen Teil von der Zivilgesellschaft getragen. Das sind die Organisationen, die im Rahmen der Protestbewegung entstanden sind. Die haben seit dem 7. Oktober viele wichtige Aufgaben übernommen, was der Staat nicht mehr leistet. Von der Versorgung der Geflüchteten bis dazu, Reservisten an die Front zu fahren. Man fragt sich: Wo ist der Staat? Das Engagement der Bürger ist außerordentlich. Ich kenne keinen Staat auf der Welt, wo die Menschen so engagiert sind und so viel leisten. Sie haben eine bessere Regierung verdient. Die Umfragen zeigen: Zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerung lehnen die aktuelle Regierung ab. Ob es so leicht wird, diese Regierung loszuwerden, ist eine andere Sache. Weil die nächste reguläre Wahl erst in drei Jahren stattfindet.

Wir beobachten die aggressivste antisemitische Welle seit dem Zweiten Weltkrieg im Großteil der westlichen Welt

Die UN-Vollversammlung hat vor wenigen Tagen einen sofortigen humanitären Waffenstillstand verlangt. Die halbe Welt diskutiert über den Konflikt, aber eine langfristige Lösung, die Frage „Was kommt nach dem Krieg?“, ist selten Thema.

Das ist vielleicht die wichtigste Frage, die sowohl in der Diskussion in Israel als auch auf der Welt viel zu kurz kommt. In Israel wird nur an bestimmten Orten darüber diskutiert, was eine langfristige Lösung sein könnte, z.B. in der Zeitung Haaretz. Natürlich sagen die Hardliner: Die Lösung ist, dass die Hamas zerstört wird – und dann wird alles gut. Ich glaube aber nicht, dass sie selbst daran glauben. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung in Gaza unterstützen die Hamas. Auf den Bildern des 7. Oktobers haben wir gesehen, dass es nicht nur die Hamas-Leute waren, die dieses Massaker verübt haben. Als die Leichen von jungen Frauen durch die Straßen geführt wurden, haben die Leute gejubelt und sie bespuckt. Weder die Vorstellung, dass die Hamas verschwindet, noch die Vorstellung, dass man zum Status quo vom 6. Oktober zurückkommen könnte, ist realistisch. Es muss eigentlich klar sein, dass es nach dem Krieg eine politische Lösung braucht. Die Tragik ist, dass sowohl die Hamas als auch die Netanjahu-Regierung eine politische Lösung nicht wollen.

Was bedeutet das genau?

Eine gemeinsame Regierung unter der PLO in Gaza und in der Westbank wäre für Netanjahu ein Schritt Richtung Zwei-Staaten-Lösung. Eine Lösung, die er ablehnt. Das würde auch die Regierung scheitern lassen, weil seine Verbündeten von der Siedlerbewegung das nicht zulassen würden. Für die Hamas würde Hoffnung und Wiederaufbau in Gaza bedeuten, dass ihr Geschäftsmodell am Ende ist. Die Hamas lebt davon, dass es der Bevölkerung schlecht geht. Dass die Milliarden, die in den letzten Jahren nach Gaza geflossen sind, nicht in zivile Infrastruktur, Wirtschaft und Bildung investiert wurden, sondern in Waffensysteme und Tunnel. Die Hamas hat auch kein Interesse an einer langfristigen Lösung. Ihr einziges Ziel war und ist die Vernichtung des Staates Israel.

Ein Plakat zeigt die Porträts der verschleppten israelischen Geiseln während einer Demonstration für ihre Freilassung in Tel Aviv am 15. November
Ein Plakat zeigt die Porträts der verschleppten israelischen Geiseln während einer Demonstration für ihre Freilassung in Tel Aviv am 15. November Foto: AFP/Ahmad Gharabli

In Ihrem Buch „Über Israel reden“ schreiben Sie zu Beginn, dass Sie sich als junger Mann in Deutschland oft fragten: „Wieso interessiert ihr euch so sehr für unseren Konflikt?“ Haben Sie heute eine Antwort auf die Frage, warum der Nahostkonflikt für die ganze Welt so eine Bedeutung hat?

Wenn wir von der „ganzen Welt“ sprechen, dann verrät das einen bestimmten Blick. Ich glaube nicht, dass 1,4 Milliarden Chinesen oder 1,4 Milliarden Inder Tag und Nacht an diesen Konflikt denken. Es ist ein Phänomen, das sehr stark in Europa, Amerika und in den muslimischen Ländern mobilisiert. Für diese Gegenden ist die Antwort: Man muss genau hinschauen, welche Rolle dieser Konflikt in der jeweiligen Region hat. In der muslimischen Welt ist festzustellen, dass der Konflikt genutzt wird, um eine einheitliche muslimische Identität zu proklamieren, die es so nicht gibt. Wir sehen, dass es innerhalb der muslimischen Welt sehr viele Konflikte gibt. Nur wenn es um die Palästinenser geht, wird ein Konsens hergestellt. Das geht sehr stark mit antiwestlichen Sentiments einher. Israel wird dem Westen zugerechnet, der in der arabisch-muslimischen Welt imperialistisch agiert.

Ich habe wirklich Angst, wo es uns in dieser Debatte noch hinführt

Eine Sichtweise, die auch in der von postkolonialen Denkern geprägten modernen Linken verbreitet ist.

Das ist genau die Schnittmenge zwischen dieser sehr verbreiteten Sichtweise in der arabisch-muslimischen Welt auf der einen Seite und einem gewissen Trend innerhalb der Menschen, die sich als links-progressiv verstehen. Dieser Ansicht nach gibt es einen grundlegenden Konstruktionsfehler: Juden haben in diesem Teil der Welt nichts zu suchen. Sie sind „weiß“, sie sind westlich, sie leben in der Region, in der das indigene Volk das der Palästinenser ist. Das sei die Ursache des Problems. Das hat man am 7. Oktober auch deutlich gesehen. Da gab es Menschen, die betont haben, das sei ein antikolonialer Kampf, und wenn man Siedler sei, solle man sich nicht wundern, dass die indigene Bevölkerung einen Aufstand macht. Mit „Siedler“ meinten diese Leute nicht die echten Siedler in der Westbank, sondern die jungen Menschen auf dem Supernova-Festival oder die Menschen in den Kibbuzim an der Grenze zu Gaza. Wohlgemerkt, das sind alles Ortschaften, die sich im Kernland Israel befinden und die nach internationalem Recht unstrittig Teil von Israel sind.

Das Foto einer Vermissten steht in ihrem zerstörten Haus im Kibbuz Nir Oz
Das Foto einer Vermissten steht in ihrem zerstörten Haus im Kibbuz Nir Oz  Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Hat sich mit dem 7. Oktober etwas verändert?

Das sind alles keine neuen Sichtweisen. Was vielleicht neu ist, ist diese breite Mobilisierung in den sozialen Netzwerken. Das ist etwas, das in einem besonders hohen Maß in diesem Konflikt zu beobachten ist. Bei einigen jungen Menschen, der sogenannten Generation Z, die in der digitalen Welt aufgewachsen sind und die – pauschal gesagt – sehr wenig Ahnung von der Geschichte des Konflikts und der politischen Situation haben, ist es angesagt, auf der Seite der Palästinenser zu stehen. Früher musste man nicht alle Ereignisse auf der Welt ständig kommentieren. Wenn man eine Zeitung liest, kann ich eine Meinung haben oder nicht, aber ich werde nicht danach gefragt. In den sozialen Medien wird man ständig aufgefordert, sich zu positionieren – und das innerhalb von ein paar Millisekunden. Man muss entscheiden, like ich das oder like ich das nicht, teile ich das oder teile ich das nicht. Diese Generation ist in der Realität aufgewachsen, sich immer einem Lager zuordnen zu müssen. Da entsteht eine digitale Herdenmentalität, die dazu führt, dass dann zum Beispiel in der Klimabewegung, bei „Fridays for Future“, plötzlich eine einseitige Parteinahme stattfindet, ohne dass sie in irgendeiner Weise mit deren Auftrag oder Ziel zu tun hätte oder umfassend begründet wird.

In der gemeinsamen Kolumne mit Ihrer Frau in der FAZ haben Sie kürzlich über das Ringen um den „Opferstatus“ im Nahostkonflikt geschrieben. In Ihrem Buch erzählen Sie davon, was passiert, wenn Argumente und Inhalte vernachlässigt werden gegenüber dem Hintergrund eines Sprechers, oder zu welchen Problemen eine unhinterfragte antirassistische Prämisse, dass Betroffene immer recht haben, führt, wenn zwei Minderheiten sich gegenüberstehen. Im Nahostkonflikt kulminieren ganz viele linke Diskurse und Streitfragen der Gegenwart, oder?

Ich würde fast sagen, in dieser Debatte seit dem 7. Oktober kommt nichts vor, was wir nicht vorher schon kannten. Das Einzige, was für mich neu ist, ist diese Vehemenz. Die ist enorm. Ich merke, dass es mir nicht nur auf der analytischen Ebene Sorgen macht, ich habe wirklich Angst, wo es uns in dieser Debatte noch hinführt. Diese Mobilisierung und dieses emotionale Hochschaukeln, das gerade stattfindet, wir wissen nicht, was diese Energien noch auslösen können. Wir beobachten die aggressivste antisemitische Welle seit dem Zweiten Weltkrieg im Großteil der westlichen Welt. Ich befürchte, das ist nur der Anfang.