AusstellungDie Macht der Zwischentöne: Vier Künstler*innen definieren „Gossip“ neu – zwischen Luxemburg und Saarbrücken

Ausstellung / Die Macht der Zwischentöne: Vier Künstler*innen definieren „Gossip“ neu – zwischen Luxemburg und Saarbrücken
Künstler*innengemeinschaft (v.l.): Sophia Lökenhoff, Noé Duboutay, Hannah Mevis und Darja Linder Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Nach langer Pandemiepause kehrt das luxemburgisch-deutsche Kunstaustauschprogramm Artmix zurück: mit einer Doppelausstellung in Saarbrücken und Luxemburg, gleichzeitig kuratiert und bespielt von vier Künstler*innen – mit einer gemeinsamen Idee.

Als Erstes sind da die blonden Haare. In langen Zöpfen hängen sie von der Person herab. Von ihrem Kopf, ihren Augen, ihrer Nase, ihrem Mund. Ihr ganzes Gesicht liegt versteckt hinter einem Vorhang aus geflochtenen Haaren. „Das Wertvollste an mir sind meine blonden Haare“, sagt die Stimme aus den Kopfhörern. „Ich schlage Wurzeln in deutschen Steinen.“ „Deutsche Steine“, so lautet auch der Titel dieser Videoprojektion der Künstlerin Darja Linder. Sie ist das erste Werk, das einem begegnet, wenn man die weißen Räume im zweiten Stock der Stadtgalerie Saarbrücken betritt. Linder ist eine der vier Künstler*innen der Ausstellung „Gossip: matters hard to grasp“. Eine Gruppenausstellung, geplant, kuratiert und umgesetzt von Darja Linder, Noé Duboutay, Sophia Lökenhoff und Hannah Mevis – im Rahmen des Austauschprogramms Artmix.

Artmix ist eine Kooperation zwischen den beiden Städten Saarbrücken und Luxemburg. Zu den Partnern auf luxemburgischer Seite zählen das Cercle Cité, das Kulturzentrum Neimënster sowie das Casino Display, auf deutscher Seite ist es die Stadtgalerie Saarbrücken. Seit 2005 hat sich Artmix zum Ziel gesetzt, Künstler und Kunstszene aus der Großregion miteinander zu vernetzen. Nach einer dreijährigen Pandemiepause ist Artmix nun in seiner zwölften Ausgabe zurückgekehrt.

Aus den sphärischen Klängen auf den Kopfhörern der Videoinstallation schält sich ein Beat heraus. Die Person mit den langen blonden Haaren beginnt zu tanzen, langsam wiegt sie sich von einer Seite zur anderen, ihre langen Zöpfe schlagen aus wie ein Pendel. „Ich kann alles sein, was du willst“, sagt die Stimme. „Deutsch. Blond. Fleißig. Dankbar. Gehorsam.“ Und weiter: „Laut Staat gehöre ich dem Westen, aber meine hohen Wangenknochen, das sieht schon sehr osteuropäisch aus. Blond. Russisch. Willig. Verführerisch. Exotisch.“ 

Westliche Projektionen auf blondes Haar
Westliche Projektionen auf blondes Haar Foto: Editpress/Julian Dörr

Überlebenswichtiger Gossip

Linders Werke sind der perfekte Einstieg in „Gossip“, plakativ auf der einen Seite – aber auch voller Zwischentöne. Die in Russland geborene Künstlerin spielt mit Perspektiven und Projektionen – auch auf ihren eigenen Körper. Körperlichkeit und die Art und Weise, wie sich Gesellschaft auf den Körper einschreibt, sind Fragen, die auch Hannah Mevis in ihrer Arbeit beschäftigen. Sie hat das Thema „Gossip“ in den Kreis der vier Künstler*innen eingebracht. Eine Idee, mit der alle sofort „connecten“ konnten – auch weil es dabei um Körper geht und den Raum, den sie in der Welt einnehmen. „Gossip“ bedeute heute Klatsch, sagt Sophia Lökenhoff, und sei negativ konnotiert. „Aber noch im Mittelalter war ‚I’m going out with my gossip’ eine Aussage von überwiegend weiblich gelesenen und sich als weiblich identifizierenden Personen, um zu sagen: Ich treffe mich mit vertrauten Menschen.“

Linder, Duboutay, Lökenhoff und Mevis eignen sich diese Deutung des Begriffs wieder an: Gossip also im Sinne von mündlicher Überlieferung – bevor weibliche Körper zurück in den häuslichen Raum gedrängt wurden. „Gossip wird heute belächelt“, sagt Lökenhoff. „Und nicht als Wissensproduktion angesehen, die eigentlich den gleichen Stellenwert hat wie akademisches Schreiben.“ Und Mevis ergänzt: „Gossip ist ein politisches Instrument, weil es sich außerhalb von kapitalistischen und patriarchalen Systemen bewegt.“ Gossip sei so zeitgenössisch wie eh und je, so Lökenhoff, besonders in queeren Kreisen. „Es ist lebensnotwendig und überlebenswichtig, sich auszutauschen, wenn man zu einer marginalisierten Gruppe gehört.“

Diese Solidarität untereinander zeigt sich auch im Konzept der diesjährigen Ausgabe von Artmix. Linder und der gebürtige Luxemburger Duboutay wurden von einer Jury für das Projekt ausgewählt. Daraufhin durften die beiden wiederum jeweils eine weitere Person einladen: Mevis und Lökenhoff. Alle vier arbeiten sehr  unterschiedlich und mit verschiedenen Materialien. Während Linder und Mevis in Saarbrücken leben und arbeiten, sind Duboutay und Lökenhoff aus Berlin angereist. Um Kunst- und Kulturaustausch zwischen Luxemburg und Deutschland geht es bei „Gossip“ weniger. „Was eher ins Gewicht fällt, sind die unterschiedlichen Blasen, in denen wir vier uns als Einzelpersonen bewegen“, sagt Mevis. „Das ist nicht an eine Stadt gebunden, sondern an unsere Communitys, Freund*innenschaften und Netzwerke.“

Doppelausstellung mit Doppelrollen

Geplant haben die vier Künstler*innen die Ausstellung während einer dreimonatigen Residency in Neimënster im Dezember des vergangenen Jahres. Eine Besonderheit: Die vier waren nicht nur Künstler*innen, sondern auch Kurator*innen. „Das war eine Herausforderung, das unter einen Hut zu bekommen“, sagt Lökenhoff. Die ausgestellten Kunstwerke entstanden alle im Laufe der zweiten Residency in der Saarbrücker Stadtgalerie im März. Ein enger Zeitplan – zumal für zwei gemeinsam gedachte, aber unabhängig voneinander funktionierende Ausstellungsräume.

Tscheburaschka im Soldaten-Outfit
Tscheburaschka im Soldaten-Outfit Foto. Editpress/Julian Dörr

„Gossip“ ist eine Doppelausstellung. „Ob man in Saarbrücken oder in Luxemburg anfängt, ist egal“, sagt Duboutay. Das ganze Konzept erschließt sich einem aber erst, wenn man beide Räume besucht. Dann fangen die Orte und Werke an, miteinander ins Gespräch zu treten. Da sind Linders Gemälde und Installationen, in Saarbrücken eine sehr persönliche Reflexion, geprägt von einer oft kindlichen Ästhetik der späten Neunziger- und frühen Nullerjahre, die in Luxemburg dieses Poesiealbums-Gefühl vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs radikal politisch aufladen: Tscheburaschka, die berühmte russische Kinderfigur im Soldaten-Outfit. Oder Duboutay, der in Saarbrücken winzige silberne Schneckenhäuser an langen Ketten von Harnessen herabhängen lässt, die an der Decke befestigt sind – in Anlehnung an mittelalterliche Ritterrüstungen und den Roman „Le Roman de Silence“ aus dem 13. Jahrhundert, „ein Beispiel einer queeren Perspektive auf Geschichtsschreibung“, wie Duboutay sagt. In Luxemburg zeigt der Künstler silberglänzende Aluminiumplatten mit Zitaten aus eben jenem Text.

Je tiefer man sich in die Idee und Welt von „Gossip“ begibt, desto mehr öffnen sich die Gedanken. Am Ende des Ganges in Saarbrücken steht „Vertical Divorce of Sun and Moon _ mind your fingers“, der Entwurf einer begehbaren Skulptur. Ein Vieleck aus Metallstreben umgeben von pulverbeschichteten Platten, die sich einmal um das gesamte Vieleck schließen oder öffnen lassen. Sie können den Körper vor der Welt einsperren – oder eben den Blick auf den freien Himmel darüber fokussieren. In Luxemburg zeigt Mevis ein Werk, das von seiner Form her an die Skulptur in Saarbrücken erinnert – nur viel offener. Stahltore sind in einem Halbkreis angeordnet. Die blickdichten Platten aber, die sind verschwunden. Stattdessen wehen feine Seidentücher im kaum spürbaren Wind.

Infos

„Gossip: matters hard to grasp“ ist noch bis zum 26. Mai in der Stadtgalerie Saarbrücken und bis zum 30. Juni im Cercle Cité in Luxemburg zu sehen. Der Eintritt ist kostenlos.