Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine verirren sich nur in kleiner Zahl in die Staaten des früheren Jugoslawiens. Doch auch in meinem Viertel in Serbiens Hauptstadt Belgrad hinterlässt das ferne Blutvergießen seine Spuren. Seit Kriegsbeginn prangt in der Straße der Schule meiner Kinder ein großes Putin-Mauergemälde: Alle paar Tage wird es übermalt – und ebenso schnell wieder ausgebessert. Als „Brat – Bruder“ preist der Schöpfer des Machwerks den bewunderten Kremlchef. Wird das B übertüncht, wird der brat zum „rat – Krieg“: Mit roten Blutflecken und russischen „Mörder“-Aufschriften pflegen Putin-Gegner das Antlitz des Kriegsherrn immer wieder aufs Neue zu bemalen.
Ganz andere Folgen hat der Ukraine-Krieg in der Schulklasse meines Sohns: Seit Mai jagt er in den Unterrichtspausen auf dem Schulhof gemeinsam mit dem elfjährigen Juri (wie alle Namen in dem Artikel ist auch der geändert) aus Moskau dem Fußballleder hinterher. Bei Kindergeburtstagen, Elternabenden und im Parkcafé habe ich mittlerweile auch seine aus Sibirien stammenden Eltern kennengelernt. Der Ukraine-Krieg hat die Software-Entwickler Wiktor und Natascha genauso wie ihre Firma von Moskau nach Belgrad verschlagen.
Über 100.000 IT-Ingenieure sollen Russland seit Kriegsbeginn bereits verlassen haben. Die meisten der Hightech-Kriegsemigranten versuchen ihr Glück im türkischen Istanbul, im armenischen Eriwan, georgischen Tiflis, aber auch in Belgrad: Laut inoffiziellen Schätzungen sollen sich in den letzten Monaten rund 30.000 Russen in der Donaustadt niedergelassen haben.
Die meisten, die gehen, wollen mit diesem Krieg einfach nichts zu tun haben
Der russische Hightech-Aderlass in die Emigration habe vor allem Berufs-, aber auch politische Gründe, erzählte mir kürzlich der Neu-Belgrader Ilja. Einerseits kompliziere der SWIFT-Ausschluss von Russlands westlichen Arbeits- und Auftraggebern die Bezahlung ihrer russischen IT-Ingenieure. Andererseits erschwere die russische Webzensur, die auch wirtschaftliche und technische Portale treffe, diesen zunehmend die Arbeit. Auch die Furcht vor einer Mobilisierung habe viele Jüngere ihre oft schon länger gehegten Auswanderpläne nun realisieren lassen: „Die meisten, die gehen, wollen mit diesem Krieg einfach nichts zu tun haben.“
Doch immer höhere Visahürden verbauen Putin- und kriegsmüden Russen den Emigrationsweg in Richtung Westen. Nach Serbien können die IT-Flüchtlinge hingegen visafrei einreisen und Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen relativ leicht erhalten. Da ihr russophiles Gastland die EU-Sanktionen gegen Russland nicht mitträgt, ist Belgrad von Moskau oder Sankt Petersburg noch immer per Direktflug zu erreichen. Aber vor allem das positive Bild, das viele Serben über das ihnen oft völlig unbekannte „Bruderland“ hegen, erleichtert den russischen IT-Immigranten ihren Neuanfang an der Donau: Zumindest für Putins Krieg haben sie sich in Serbien kaum zu rechtfertigen.
Eher macht ihnen die von Serbiens regierungsnahen Boulevardpostillen seit Jahren kräftig angeheizte Putin-Verherrlichung in ihrem Gastland zu schaffen. Verlegen und ratlos wirkte der diplomatische Wiktor, als ihm beim jüngsten Elternabend ein serbischer Vater in gebrochenem Englisch mehrmals begeistert versicherte, dass er genau denselben Hund wie Putin habe: „I have Putin-dog, Putin-dog!“. Ilija berichtet entgeistert von einer älteren Serbin, die vor Begeisterung „völlig ausgerastet“ sei, als sein Kollege in der Bäckerei Russisch gesprochen habe: „Sie zog ihr Handy mit einem Putin-Foto aus der Tasche und küsste es immer wieder. Sie rief, ich liebe Putin, ich liebe Putin. Es war total verrückt.“
De Maart
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