Die Konsum-Gesellschaft: Wie Luxemburg mit der Drogenproblematik umgeht

Die Konsum-Gesellschaft: Wie Luxemburg mit der Drogenproblematik umgeht

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Mit dem Abrigado gibt es seit 13 Jahren einen Drogenkonsumraum in Bonneweg. Im nächsten Jahr soll ein weiterer in Esch folgen. Doch der Konsum verändert sich und stellt die Verantwortlichen in Luxemburg vor neue Herausforderungen. 

Ein kalter Nordostwind bläst an diesem wolkenverhangenen Montagmorgen über die Eisenbahnbrücke, die vom hauptstädtischen Bahnhof zum Abrigado führt. Rechts steht das große Verwaltungsgebäude von Paul Wurth. Das multinationale Unternehmen, das Anlagen im Dienst der Stahl- und Eisenindustrie herstellt und zu 40 Prozent dem Luxemburger Staat gehört, hatte 2010 Einspruch vor dem Verwaltungsgericht eingelegt, weil eine „Fixerstuff“ in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft angesiedelt werden sollte, und recht bekommen.

Daher hatten sich die Stadt Luxemburg und der damalige Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo (LSAP) 2012 für den Bau eines neuen Gebäudes in Modulbauweise in der route de Thionville entschieden. Es sollte das 2005 als Containerbau an gleicher Stelle eröffnete „Tox In“ (im Volksmund auch „Fixerstuff“ genannt) ersetzen. Ziel dieser Einrichtung war es, die Zahl der Drogentoten erheblich zu reduzieren.

Dieses Ziel wurde erreicht. Innerhalb von knapp zehn Jahren ist die Zahl der tödlichen Überdosen in Luxemburg laut Gesundheitsministerium von 27 im Jahr 2007 auf fünf in 2016 gesunken. Seit seiner Eröffnung sei innerhalb des Abrigado niemand an einer Überdosis gestorben, selbst wenn durchschnittlich 1,2 Überdosen im Monat dort gezählt werden, erklärt Raoul Schaaf, Direktor des „Comité national de défense sociale“ (CNDS), das die niederschwellige Einrichtung betreibt. Das liege daran, dass im Drogenkonsumraum des Abrigado immer zwei Betreuer anwesend seien, die sofort eingreifen können.

Bis zu 250 Besucher täglich

Bei Temperaturen von unter fünf Grad Celsius stehen bereits um 10.00 Uhr morgens mehrere Menschen vor der Tür und warten. Im Abrigado können sie nicht nur Drogen konsumieren, sondern sich aufwärmen, einen Kaffee trinken, endlich einmal zur Ruhe kommen. An fünf der sieben Wochentage öffnet die Einrichtung erst am Mittag. Das soll sich bald ändern, meint Schaaf. 2019 sollen zumindest am Wochenende die Öffnungszeiten verlängert werden. Die Stadt Luxemburg habe dem CNDS drei zusätzliche Stellen in Aussicht gestellt. Mit der Unterstützung des Gesundheitsministeriums könnte die Einrichtung auch an den Arbeitstagen länger offen bleiben und somit eine bessere Verteilung der Konsumenten über den Tag ermöglichen. Wegen der langen Warteschlangen vor dem Konsumraum komme es immer häufiger vor, dass Nutzer sich dazu entscheiden, ihre Drogen draußen zu gebrauchen.

Laut Schaaf gibt es Schätzungen zufolge 3.000 bis 3.500 problematische Drogenkonsumenten in Luxemburg. Das Abrigado zählt täglich 200 bis 250 Besucher. Viele von ihnen kommen mehrmals am Tag. Pro Jahr werden rund 420.000 Spritzen gewechselt.

Manche Einwohner, Geschäftsleute und Besucher Bonnewegs stören sich daran, dass Menschen sich vor ihren Augen spritzen. Besonders während des langen und warmen Sommers hätten es viele Konsumenten vorgezogen, draußen zu bleiben, erzählt Schaaf. Doch nicht nur Drogenabhängige treffen sich im Hof des Abrigado. Auch Verkäufer, Prostituierte und abgewiesene Geflüchtete aus Drittstaaten suchen hier die Sicherheit eines vermeintlich rechtsfreien Raums. Doch diesen Raum gäbe es nicht. Polizisten, manche in Zivil, seien regelmäßig anwesend, um den Bereich zu überwachen und mutmaßliche Dealer aufzuspüren und gegebenenfalls zu verhaften, erklärt Schaaf.

Dezentralisierung

Entlastung erhofft sich das Abrigado durch die Eröffnung eines Drogenkonsumraums im Süden Luxemburgs. Die Gespräche zur Einrichtung der „Fixerstuff“ in Esch begannen bereits vor über 15 Jahren. Auf Druck des damaligen Bürgermeisters der Stadt Luxemburg, Paul Helminger (DP), wurde im Regierungsprogramm von 2009 festgelegt, dass Betreuungseinrichtungen für Rauschmittelabhängige nach Esch und gegebenenfalls in die „Nordstad“ dezentralisiert werden sollen. Zumindest in Esch hat sich das Projekt im Frühjahr 2017 endlich konkretisiert. Die Eröffnung der „Fixerstuff“ in der rue de Luxembourg ist für Juni 2019 geplant.

Als Betreiber wurde die „Jugend- an Drogenhëllef“ bestimmt, die schon seit Jahren eine Beratungsstelle in der Escher rue Saint-Vincent leitet. Das endgültige Konzept befinde sich noch in Ausarbeitung, erklärt die Escher Sozialschöffin Mandy Ragni („déi gréng“). Inspiration habe man sich Anfang November bei einer Besichtigung von zwei Drogenkonsumräumen in Dänemark geholt. Anders als in der Hauptstadt findet sich die Escher „Fixerstuff“ außerhalb des Bahnhofsviertels, wo der Handel stattfindet. „Der Standort ist nicht ideal“, sagt Ragni. Deshalb gehe es nun erst einmal darum, die Konsumenten darauf vorzubereiten, dass sie den 20-minütigen Gehweg vom Stadtzentrum bis zur „Fixerstuff“ zurücklegen müssen.

Sorgen bei den Bürgern

In Zusammenarbeit mit der Polizei werde zudem eine Karte über die räumliche Wanderung der Drogenszene erstellt. Um sich bei den Drogenkonsumenten bekannt zu machen und eine Vertrauensbasis herzustellen, wurde in Esch kürzlich der Streetwork-Dienst ASUP („Action sociale de proximité urbaine“) der „Jugend- an Drogenhëllef“ gegründet. Parallel dazu verteilen die Streetworker kleine Behälter, in denen die Spritzen sicher entsorgt werden können, damit sich die Gemeindearbeiter beim Entleeren der öffentlichen Mülleimer nicht daran verletzen. In den kommenden Monaten bestehe die Herausforderung nun darin, die Bürger mit ins Boot zu nehmen, um die Akzeptanz in den Vierteln Lallingen und „Wobrécken“ zu fördern.

„Wir verstehen die Bürger, dass sie so etwas nicht vor ihrer Tür haben wollen“, meint die Sozialschöffin. Deshalb habe die Stadt Esch einen inklusiven Ansatz gewählt. Sie wolle mit den Einwohnern zusammenarbeiten, ihnen den Kontakt zu den Verantwortlichen der „Jugend- an Drogenhëllef“ und der Gemeinde erleichtern. Diese sollen bei Problemen jederzeit erreichbar sein. Das Konzept soll auf einer öffentlichen Versammlung und bei einer „Porte ouverte“ erklärt werden. Damit die Drogenkonsumenten nicht auf dem benachbarten Parkplatz des Cactus-Supermarkts herumhängen, sollen die Betreuer der „Fixerstuff“ erzieherische Arbeit leisten.

In Esch ist die Polizei in den vergangenen Monaten konsequent gegen Dealer vorgegangen. Bei einer Großrazzia in der avenue de la Gare wurden Mitte Oktober acht Verdächtige festgenommen. Seitdem hat sich die Drogenszene aus diesem Bereich verzogen. Laut Mandy Ragni könnte sie in die Hauptstadt gewandert sein. Deshalb ist die Schöffin skeptisch, dass die „Fixerstuff“ in Esch tatsächlich das Abrigado entlasten kann: „Die Drogenabhängigen bleiben dort, wo sie am schnellsten an Ware kommen. Und wenn der Verkauf hauptsächlich in der Hauptstadt abläuft, wird kaum jemand nach Esch kommen, nur um zu konsumieren.“

Katz-und-Maus-Spiel

Der illegale Drogenhandel ist ein Katz-und-Maus-Spiel. Die Konsumenten brauchen Ware, der Konsum wird aus Sicherheitsgründen toleriert, doch der Verkauf wird bestraft. „Ich glaube nicht, dass das Abrigado die Dealer anzieht. Aber es ist schon klar, dass Dealer, die etwas verkaufen wollen, wissen, dass sich ihre Kundschaft hier aufhält, und sie sie deshalb hier abholen. Das macht jeder Versicherungsvertreter auch so“, sagt Raoul Schaaf. In der Schweiz wird Heroin seit 1993 kontrolliert abgegeben. Auch in Teilen Deutschlands und in Schweden wurde dieses Modell mittlerweile übernommen. „Die Entkriminalisierung ist für mich ein zentrales Thema. Der einzige Weg, um das umzusetzen, ist die kontrollierte Abgabe auf Rezept“, betont der CNDS-Direktor.

In Luxemburg wurde 2017 ein Pilotprojekt mit kontrollierter Abgabe von Heroin in Tablettenform gestartet. Ob dieses Angebot in Zukunft in die Routineversorgung im Bereich der Suchthilfe integriert werden kann, müsse die Erfahrung zeigen, erläutert Alain Origer, nationaler Drogenkoordinator des Gesundheitsministeriums. Die Vorteile der kontrollierten staatlichen Abgabe: Die Beschaffungskriminalität sinkt und die Qualität der Substanzen kann gewährleistet werden. Das luxemburgische Pilotprojekt verfolgt Origer zufolge aber nicht das Ziel, den Drogenschwarzmarkt einzudämmen, sondern sei konzipiert worden, um „bestimmten opiatabhängigen Menschen in gewissen Situationen zu helfen“.

Paradigmenwechsel

Laut Raoul Schaaf sinkt die Zahl der reinen Heroinkonsumenten in den vergangenen Jahren kontinuierlich. Opiate werden immer seltener angeboten. Im Gegenzug wird Kokain immer aggressiver vermarktet. Diese Entwicklung bestätigt auch der nationale Drogenkoordinator. „Die verfügbaren Indikatoren der Prävalenz in Bezug auf den problematischen Kokainkonsum in Luxemburg verzeichnen allesamt eine steigende Tendenz in den letzten Jahren“, antwortet Origer auf eine schriftliche Anfrage. Die nationalen Suchthilfeeinrichtungen hätten zwischen 2013 und 2015 einen Anstieg der Kokainkonsumenten von 51 auf 63 Prozent festgestellt. In den Drogenkonsumräumen sei der Anteil an Kokain von 5 Prozent im Jahr 2012 auf 33 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen. Nicht zuletzt hätten sich die Fälle von Kokainbeschlagnahmungen von 103 (2013) auf 226 (2017) erhöht.

Die problematischen Drogenkonsumenten seien wegen der höheren Verfügbarkeit von Kokain auf dem Schwarzmarkt eher aus der Not heraus auf die Substanz umgestiegen, so Origer. Anfangs hätten viele nicht einmal unbedingt gewusst, was das Produkt enthalte, das sie gekauft haben. Es sei nicht so, dass Langzeit-Heroinabhängige plötzlich eine von ihnen ausgehende Nachfrage an Kokain entwickelt hätten. Das Angebot und der Konsumdruck seien ausschlaggebend gewesen. Origer unterstreicht aber, dass dies größtenteils auf Langzeit- und problematische Konsumenten zutreffe. Der allgemeine Konsum von Kokain in der luxemburgischen Gesamtbevölkerung sei mit 0,4 Prozent im Vergleich zum EU-Durchschnitt (1 Prozent) eher niedrig.

Eine Frage der Reinheit

Das gestiegene Angebot von Kokain hat vor allem geopolitische Ursachen. In einem Interview auf RTL Radio führte Origer die hohe Verfügbarkeit kürzlich auf die veränderte politische Lage in Kolumbien zurück. Raoul Schaaf zufolge begründen auch der gesunkene Preis und die Reinheit des Kokains seine „Beliebtheit“ bei den Konsumenten. Während beim Heroin der Reinheitsgehalt laut Schaaf bei lediglich 15 bis 16 Prozent liegt, weise das Kokain auf dem nationalen Schwarzmarkt im Durchschnitt einen Reinheitsgrad von 49 Prozent auf, weiß Origer. Allerdings seien große Schwankungen zu beobachten. Insgesamt habe die Reinheit seit 2014 aber leicht zugenommen.

Unter den Verunreinigungen und Streckmittel fänden sich im Kokain vor allem das Schmerzmittel Phenacetin und das Entwurmungsmittel Levamisol. In geringerem Maße würden auch das Betäubungsmittel Lidocain, Koffein und das schmerzlindernde Arzneimittel Paracetamol festgestellt.

Was Kokain vor allem von Heroin unterscheidet, ist die aufputschende Wirkung und die geringe Wirkungsdauer. Die Konsumenten stünden in der Regel ständig „unter Strom“ und neigten eher zu Aggressivität als Opiatkonsumenten, erläutert Alain Origer. Wegen der kürzeren Wirkungsdauer müsse die Substanz täglich viel öfter injiziert werden. Durch bis zu 15 Injektionen am Tag steige das Risiko, Gesundheitsschäden davonzutragen und sich mit HIV oder Hepatitis zu infizieren. Auch der finanzielle Aufwand sei wegen der hohen Frequenz beim Kokain wesentlich größer als beim Heroin.

Folgen für Konsumraum

Origer weist vor allem auf die schlechten Lebensbedingungen hin, die der häufige und problematische Kokainkonsum mit sich bringt: „Durch den ständig drehenden Teufelskreis von Geldbeschaffung, Kokainbeschaffung, Konsum und Entzugserscheinungen, die zur erneuten Geldbeschaffung führen, bleibt dem Kokainkonsument weniger bis gar keine Zeit für Arztbesuche, Spritzenaustausch oder für eine weiterreichende und zielführende Behandlung.“ Abhilfe könnte schon eine umfassende Abdeckung der Krankenkassenleistungen bringen. Experten aus dem sozialen Bereich fordern schon lange, dass RMG- oder Revis-Empfänger nicht mit dem Verlust der Sozialleistungen bestraft werden dürfen, wenn sie nicht alle Anforderungen der ADEM erfüllen.

Die veränderte Konsumpraxis hat auch Auswirkungen auf die Drogenkonsumräume, wie Raoul Schaaf bestätigt: „Wenn der Kokainkonsum weiter steigt, werden wir eine ganze Reihe von Konsumenten nicht mehr erreichen können, weil sie ein ganz anderes Verhalten an den Tag legen. Der Heroinkonsument ist froh, wenn er nach dem Gebrauch eine Zeit lang nicht gestört wird, und er lässt auch die anderen in Ruhe. Beim Kokain ist die Wirkung eine ganz andere. Die soziale Distanz zwischen den Menschen verschwindet und sie streiten. Manche verfallen auch regelrecht in Delirien.“ Um dem steigenden Kokainkonsum Rechnung zu tragen, hat das Abrigado schon 2012 einen sogenannten „Blowroom“ eröffnet. Dort können Konsumenten Kokain als Base in rauchbarer Form inhalieren. Diese Form des Konsums gilt als risikoärmer und weniger abhängig machend. Laut Origer ist der Anteil der inhalierenden Konsumenten seitdem von 30 auf 50 Prozent gestiegen. Auch in Esch soll ein solcher „Blowroom“ eingerichtet werden.

Laut Schaaf reichen diese Maßnahmen aber noch nicht aus. Das Angebot müsse weiter an den veränderten Konsum angepasst werden. Es müsse geprüft werden, welche Bedürfnisse die Konsumenten haben, und dementsprechend gehandelt werden. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Konsumenten direkt an der Gestaltung „ihrer“ Einrichtung zu beteiligen. Laut Mandy Ragni werden in Luxemburg drei bis vier Drogenkonsumräume gebraucht. Raoul Schaaf erzählt, dass bereits eine weitere Stadt im Süden und eine Gemeinde im Norden Interesse an einer „Fixerstuff“ bekundet hätten. Eine ergänzende Lösung könnten auch mobile Drogenkonsumräume darstellen, die von Ort zu Ort fahren.

Lesen Sie auch den Kommentar zu dem Thema.