Sonntag9. November 2025

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TiereEhrliches Vertrauen aufbauen: Wie Pferde das Instinktverhalten überwinden können

Tiere / Ehrliches Vertrauen aufbauen: Wie Pferde das Instinktverhalten überwinden können
Reitlehrerin Deborah Brüchle mit ihrem Pferd Anno Lim Foto: Jenna Theis

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Die wilden Vorfahren der Pferde waren Flucht- und Beutetiere, die mithilfe des Instinkts jahrhundertelang in der Herde überlebt haben. Heute besitzen Pferde noch die gleichen Instinkte und zeigen Verhaltensweisen, die sie von ihren Urahnen geerbt haben. Für Reiter*innen ist es wichtig, die Instinktverhalten der Reittiere zu verstehen, um sie artgerecht behandeln zu können. Je mehr man über ihre Bedürfnisse weiß, desto eher kann man unerwünschtes Verhalten verhindern und für ihr Wohlbefinden sorgen. Denn nur wenn das Tier dem Reiter vertraut, kann es die Instinkte überwinden und neue Verhaltensweisen erlernen. Welche Instinkte man kennen muss, um das Vertrauen der Pferde zu gewinnen, verrät uns Pferdetrainerin Deborah Brüchle.

Tageblatt: Welche Fähigkeiten haben Pferde durch den Selbsterhaltungstrieb entwickelt?

Deborah Brüchle: Pferde stimmen in einer Herde den Herzschlag aufeinander ab. Wenn das Leitpferd etwas als Gefahr einstuft, schüttet der Körper Adrenalin aus, daraufhin pumpt das Herz schneller. Somit bekommen die anderen Pferde ein Signal, um gemeinsam vor der Gefahr zu fliehen. Die Pferde, die nicht an der Spitze der Hierarchie sind, können ihrer Umwelt weniger Aufmerksamkeit schenken. Der Ranghöchste einer Herde hat dahingegen keine Ruhepause. Für diese dominanten Pferde ist es ein Geschenk, wenn ein Mensch ihnen genug Vertrauen schenken kann, dass sie ihm die Entscheidung über Gefahr oder Ruhe abgeben können. Beim Reiten merkt man ihnen auch an, dass sie zufrieden damit sind, ihrem Leit-Menschen diese Aufgabe abzugeben, um wesentlich losgelassener zu laufen. Die Ausdauer ist eine weitere Fähigkeit, die sie im Laufe der Zeit entwickelt haben. Ein Pferd wird während des Trainings nie seine gesamte Kraft verbrauchen, denn der Fluchtinstinkt spart immer etwas Energie, um vor lebensgefährlichen Situationen wegzulaufen.

Welche Instinktverhalten zeichnen das Pferd aus?

Der Instinkt und das Überlebensverhalten sind angeborene Reaktionen, die Pferde über Jahrhunderte entwickelt haben, um ihr Überleben in ihrer Umgebung zu gewährleisten. Beim Training sollte man nicht nur den Fluchtinstinkt, sondern auch den Herdeninstinkt in Betracht ziehen, denn ein Pferd lernt am besten mit anderen Artgenossen zusammen in einem Umfeld, wo es sich wohlfühlt. Zudem kann man die Neugierde der Jungpferde bei der Ausbildung nutzen. Durch Neugierde kann ein Pferd nämlich spielerisch an neue Situationen herangeführt werden. So lernt es durch positive Verstärkung, keine Angst vor neuen Erfahrungen zu haben. Von Vorteil ist, dass ein Pferd, das den Menschen als Herdenchef akzeptiert hat, ihm immer gefallen möchte und daher mit großer Motivation mitarbeitet.

Wie lernt man, die natürlichen Verhaltensmuster der Pferde zu erkennen?

Es ist äußerst lehrreich, einige Stunden das natürliche Verhalten der Tiere in einer Herde auf der Weide zu beobachten. Die verschiedenen Verhaltensmuster der Pferde im Stall oder gegenüber dem Menschen lernt man hauptsächlich durch den regelmäßigen Umgang mit diesen Tieren. Dabei ist darauf zu achten, dass in die Hände von unerfahrenen Reitern stets freundliche, erzogene und sanfte Pferde gehören. Tiere, die noch etwas stürmisch oder unerzogen sind, sollten nur von erfahrenen Trainern gehandhabt werden. Ein Trainer kann bei der Kommunikation zwischen dem Reiter und seinem Pferd besonders hilfreich sein.

Warum ist es bei der Ausbildung so entscheidend, das natürliche Verhalten der Pferde anzunehmen, anstatt dagegen anzukämpfen?

Fehlendes oder enttäuschtes Vertrauen führt dazu, dass Instinktverhalten an die Stelle des gelernten Verhaltens tritt. Das Pferd übernimmt dann instinktiv die Entscheidungen und die Sorge für die eigene Sicherheit selbst. Pferde sind Fluchttiere, die fünf- bis zehnmal so schwer wie ein Mensch sind. Ein Reiter kann also mit bloßer Kraft nicht gegen die Instinkte eines Pferdes ankommen. Aus diesem Grund ist es von Bedeutung, dass das Verhältnis zwischen Pferd und Reiter auf Vertrauen beruht. Um darin Erfolg zu haben, sollte der Reiter sein Pferd immer artgerecht behandeln und es auf die gleiche Weise handhaben, wie es ein Herdenchef tun würde. Nur so wird sich das Tier auch wohlfühlen und dem Menschen gerne die Rolle des Entscheiders abgeben.

Wie kann das Pferd durch gezielte Ausbildung manche Instinkte überwinden?

Durch Gelassenheitstraining und Desensibilisierung lernt das Pferd, gelassener gegenüber anderen Tieren, Objekten oder Situationen zu sein, vor denen es früher ängstlich oder nervös reagiert hat. Jedes Pferd besitzt seinen ganz eigenen Charakter, daher sollte das Training individuell abgestimmt sein. Allgemeingültig braucht es sehr viel Zeit und Geduld, um ein Pferd mit einem Tier oder Objekt, das ihm Angst einflößt, in Kontakt zu bringen. Das Desensibilisierungstraining sollte daher sehr langsam und schrittweise getätigt werden, mit viel positiver Verstärkung, sodass weitere Ängste vermieden werden können.

Wie kann man ehrliches Vertrauen zum Pferd aufbauen?

Eine starke Bindung entsteht über Jahre. Man kann ein Pferd weder an einem Tag noch in ein paar Monaten kennenlernen. Das tiefe Vertrauen zwischen dem Menschen und seinem Pferd baut sich nämlich nur langsam auf und festigt sich über die Jahre mit gemeinsam erlebten Erfahrungen, in denen sich das Pferd mit seinem Menschen sicher gefühlt hat. Ein eine halbe Tonne schweres Fluchttier sollte man also immer durch das artgerechte Training, das auf Freiwilligkeit und Vertrauen basiert, ausbilden. Das Geheimnis besteht darin, dem Pferd zu zeigen, dass es seinem Leit-Menschen mehr vertrauen kann als seinen eigenen Instinkten.