Im Sommer 2020 registrierte Russland als welterstes Land einen Corona-Impfstoff. Im Dezember 2020 begann die Impfkampagne. Doch noch immer ist die Skepsis der Bevölkerung vor Sputnik und den anderen heimischen Corona-Impfstoffen groß. Was die Pensionistin Nelli sagt, steht stellvertretend für die Meinung vieler Russen: „Über diesen Impfstoff hört man viel Widersprüchliches. Er soll Trombosen hervorrufen.“ Die 74-Jährige hat sich noch nicht impfen lassen – und hat es auch nicht vor. „Masken muss man kaufen – aber der Impfstoff wird gratis ausgegeben.“ Das kommt ihr komisch vor. Irgendetwas sei da faul, glaubt Nelli. „Ich habe Angst vor diesem Impfstoff. Ich will noch länger leben und nicht zum Zombie werden.“
Dass das Risiko einer Impfung größer sei als das Risiko einer Covid-19-Infektion – diese Überzeugung hört man in Russland oft. Aber auch die Eile, mit der Sputnik entwickelt wurde, missfällt vielen. Die 27-jährige IT-Projektmanagerin Paulina sagt etwa: „Ich bin keine Impfgegnerin. Aber eine Imfpung, die nicht ausreichend getestet wurde, ist nicht sicher.“ Der St. Petersburger Geschäftsmann Kirill denkt ähnlich: „Es ist unklar, ob diese Impfung wirklich schützt. Geimpfte sind später dennoch erkrankt.“ Er selbst hat die Krankheit durchgemacht – und verlässt sich nun auf Antikörper und gute Gesundheit. Der Glaube an Schutz-Alternativen zur Imfpung ist weit verbreitet: Viele Russen setzen auf Tees, Tinkturen oder Vitaminpräparate. Diese Mittel sollen die vielgerühmte Immunität verbessern.
Masken muss man kaufen – aber der Impfstoff wird gratis ausgegeben. Ich habe Angst vor diesem Impfstoff. Ich will noch länger leben und nicht zum Zombie werden.
Es sind keine Einzelmeinungen, die das Tageblatt hier gesammelt hat. Die Impfskepsis der Russen spiegelt sich auch in der Statistik wider. Nach einem halben Jahr Impfkampagne wurden 17 von 144 Millionen Russen mit mindestens einem Shot geimpft. Von 17 Millionen sind 12,5 Millionen vollständig immunisiert. Eine Teilimpfung erhielten also zwölf Prozent, vollständig geimpft sind weniger als zehn Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: In Österreich haben mit Anfang Juni 42 Prozent mindestens eine Impfung erhalten; vollständig geimpft sind knapp 19 Prozent.
Beispiel Moskau, wo die Impfkampagne am weitesten fortgeschritten ist. Nach einem Höhepunkt der täglichen Impfungen im Jänner und Februar ließ das Tempo merklich nach. Derzeit werden schätzungsweise 5.000 Menschen täglich immunisiert – verschwindend wenig für eine 13-Millionen-Metropole. Der Datenanalyst Alexander Dragan, 29, erklärt gegenüber dem Tageblatt die Zahlen: „Die Zahl der Impfwilligen macht vielleicht 15 Prozent der Bevölkerung aus. Sind sie immunisiert, lässt der natürliche Zustrom recht schnell nach.“ Das offizielle Ziel der Behörden, bis Ende Sommer 60 Prozent der russischen Bevölkerung zu impfen, dürfte verfehlt werden. „Mit dem jetzigen Tempo werden wir bis September höchstens die Hälfte des Solls erreicht haben“, sagt Dragan.
Auch die Behörden haben das Problem bemerkt und versuchen mit einer Plakatkampagne und öffentlichen Aufrufen gegenzusteuern. Besonders auffällig ist die Aktion aber nicht. Unlängst prangerte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin das Problem mit ungewöhnlich offenen Worten an. „Was die Zahl der Geimpften betrifft, so hinken wir allen europäischen Städten hinterher“, sagte er bei einer Veranstaltung. „Das ist еrstaunlich. Denn die Pandemie ist nicht vorüber. Die Menschen erkranken und sterben weiterhin.“
„Desaströse“ Kommunikation
Russland wollte mit seinem Impfstoff Sputnik weltweit reüssieren. Doch der internationale Verkaufserfolg ist ein Teil des Grundes, warum sich die heimische Impfkampagne verzögert: Die Produktionskapazitäten sind nach wie vor nicht riesengroß. Datenanalyst Dragan schätzt sie auf acht Millionen Dosen pro Monat, wobei etwa ein Drittel exportiert wird. Er hat berechnet, dass wegen der Auslandslieferungen mehrere Regionen nicht versorgt werden konnten. Für eine richtig massive Impfkampagne reiche die Produktion noch immer nicht.
Die Impfunwilligkeit der Russen begründet Dragan aber auch mit der „desaströsen“ Kommunikation der Behörden. Einerseits habe man die Bürger zu früh in falscher Sicherheit gewogen, dass die Corona-Krise bereits vorüber und „alles bestens“ sei. Dass etwa seit Beginn der Pandemie in Russland rund eine halbe Million Menschen mehr als sonst gestorben ist (die sogenannte Übersterblichkeit), wird in der Öffentlichkeit verschwiegen. In Teilen seit Sommer 2020, spätestens aber seit Jahresbeginn 2021 ist Russland wieder im Normalbetrieb. Um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sind keinerlei 3G-Nachweise nötig. „Die Impf-Motivation fehlt einfach“, sagt Dragan. Zudem warne die staatliche Propaganda ständig vor den Gefahren der westlichen Impfstoffe. Dieser indirekte Versuch, Sputnik zu bewerben, schlage fehl. „Diese Message kommt bei den Menschen nicht an. Hängen bleibt: Impfen ist gefährlich.“
De Maart
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