28. Dezember 2025 - 16.28 Uhr
„Hänsel a Gréidel“ im Grand ThéâtreDie eindrucksvolle Produktion katapultiert die Zuschauer in eine magische Märchenwelt
Das Wintermärchen im Großen Theater hat beinahe schon Kult-Status. In den letzten Jahren haben sich rund ein halbes Dutzend aufstrebende luxemburgische Autor:innen abgemüht, um Märchen-Klassiker wie „Rumpelstilzchen“ oder „Rapunzel“ auf Luxemburgisch umzuschreiben und für die Bühne aufzupeppen.
Immer wieder gab es auch große Namen wie Gast Waltzing, die sich um den musikalischen Rahmen kümmerten, und doch ist das Resultat in den letzten fünf Jahren immer etwas zu prätentiös und sperrig geraten; mit einer Ausnahme: „All d’Déieren aus dem Bësch“ (2021), basierend auf dem Grimmschen „Brüderchen und Schwesterchen“. Vorletztes Jahr hinterließ einen „De Geescht oder d’Mumm Séis“ etwas ratlos und man konnte sich damit trösten, dass einige der Schauspieler:innen tolle Stimmen haben.
Angesichts der zuweilen etwas abgehobenen Texte fragte man sich, wer mit den aufwendigen Produktionen angezogen werden sollte? Im Zweifel ein eher geringer Ausschnitt der Bevölkerung aus betuchten Lëtzebuergern mit ihren Kindern … Denn trotz Untertitelung auf Englisch und Französisch bleibt das Luxemburgische eine (Sprach-)Barriere.
Hinterfragen, ohne zu moralisieren
Mit der Inszenierung von „Hänsel a Gréidel“ gelingt Regisseurin Daliah Kentges (die 2019 mit „Dräi Schwësteren“ eine eindrucksvolle Regiearbeit im Kasemattentheater präsentierte) etwas, das bisher noch keine:r geschafft hat: echtes Kindertheater, das den jungen Menschen eindrucksvolle Bilder bietet, sie zum Mitmachen und Träumen animiert und zugleich gekonnt pädagogische Botschaften übermittelt.
Zu simpel, zu wenig Theater, vielleicht gar kindisch, werden einige einwenden. Doch als Kinderstück und Märchen funktioniert diese Produktion durch und durch. Und das liegt zweifellos auch am unprätentiösen, witzigen Text des jungen, 1995 geborenen Autors Cosimo Suglia und seinem unvoreingenommenen Blick.
Suglia hat sich beim Schreiben offenbar amüsiert und spielt unverkrampft mit der Sprache. Ihm gelingt es, die Ursprungsfassung, das Grimmsche Märchen „Hänsel und Gretel“ und die Zielgruppe (Kinder) im Blick zu behalten, die Erzählung ausreichend zu entstauben und zugleich tradierte Rollen, wie die der ‚bösen‘ Hexe, in Frage zu stellen – ohne je moralisierend zu sein oder die jungen Zuschauer:innen zu überfordern.
Seine Wortspiele funktionieren. Die Figur der Hexe wird nicht nur pseudofeministisch hinterfragt, Stereotype wirklich aufgebrochen. Baba (Sascha Ley) ist eine mondäne, irgendwie schrullige Hexe: durchgeknallt und schrill fällt sie mit ihrer Art aus dem Rahmen. Bevor sie erscheint, fliegen erstmal ihre Beine über den Fenstersims und baumeln dort leblos wie die einer Marionette. Sie lebt allein im Wald, seit Jahrhunderten sehr verdächtig für eine ältere Frau, und mästet Kinder, um sie dann zu verdrehen und womöglich zu verspeisen … Ein unkonventionelles Wesen, das gesellschaftlich aneckt, aber in ihrer Art anziehend auf Gretel wirkt.
„Hexen dürfen alles!“, erklärt sie Gretel. Eine Anstiftung, den eigenen Lebensentwurf selbstständig zu wählen. Denn ohne ihre Freigeistigkeit wäre sie wohl kaum allein im Wald gelandet. Die vermeintlich gestrandete Einsiedler-Existenz wird bei Suglia so zur autonom-mondänen Frauenfigur. Das klingt ein bisschen nach Hippie. Und tatsächlich ist Ley als Knusperhexe auch mehr eine verruchte Hexe, die sich den üblichen Zuschreibungen entzieht. Auch der Vater von Hänsel und Gretel (Raoul Schlechter) fällt aus dem Rahmen. Mit seiner tolpatschigen Art versucht er, über Telefonkabel stolpernd und nicht mehr als Croque Monsieur zubereitend, irgendwie die Kinder allein aufzuziehen. Willkommen im 21. Jahrhundert!
Von Anbeginn ist das Stück partizipativ. Schon wenn Hänsel über die Bühne irrlichternd nach seiner Schwester sucht und verzweifelt durch die Zuschauerränge blinzelnd ruft: Ob denn jemand Gretel gesehen hat? Die aufgeweckten Kinder im Publikum gehen mit.

Solidarität und Toleranz werden in Kentges Regiearbeit von Anbeginn beschworen. Vielleicht werden diese gar einen Tick zu dick aufgetragen. Das Geschwisterpaar ist aufeinander eingeschworen, geht durch dick und dünn. „Wir halten zusammen – zwei Seiten einer Medaille“, redet Hänsel auf Gretel ein.
Das aufwendige Bühnenbild (Anouk Schiltz) bringt einen zum Träumen. Hinter dem Vorhang sieht man zunächst schemenhaft den Mond, sukzessive kommt ein verwunschener Wald zum Vorschein, später das Hexenhäuschen. Dass hier eine Theaterpädagogin (Laetitia Lang) mitgewirkt hat, ist nicht zu übersehen, es ist eine magische Bildwelt für Kinder entstanden. Phantastische Bilder etwa, wenn sich Hänsel und Gretel an gigantischen (lebensgroßen) Schokoladentafeln überfressen … oder riesige Luxlait-Schokomilch-Tüten über die Bühne schleppen und diese schlabbern. Die Gesten und Mimik, wie Frohsinn, Heiterkeit und herbe Enttäuschung, werden ausdrucksstark von den Schauspieler:innen gemimt.
Aber auch vom Text her wird die Phantasie beflügelt, etwa, wenn Hänsel in einem Käfig kauernd überlegt, wie er ausbüchsen könnte. Wäre Gretel eine Hexe, könnte sie die Gitterstäbe zum Schmelzen bringen … Insbesondere Magaly Texeira spielt überzeugend, während Timo Wagner (der etwa schon in „Rabonzel“ (2019) eine physisch sehr intensive Rolle spielte) etwas hinter seinen Möglichkeiten bleibt.
Die Choreografie tanzender Vögel (Piera Jovic), die sich zwischendrin in ein riesiges Fabeltier verwandeln, trägt das Stück. Es sind magische Bilder, wenn diese „Villercher“ zwischen Federn und Goldstaub über die Bühne schweben. Es verwundert wenig, dass diese eindrucksvolle Produktion fast ausschließlich von Frauen gestemmt und gestaltet wurde. Die eingängigen Liedtexte sind ein Plädoyer für ein großes Miteinander. Ist die Welt böse, dann sei Du doch wenigstens ein guter Mensch: „Ass d’Welt béis, da sief du einfach ganz vill léif […].“
In einer kaputten Welt von wachsender Armut, Kriegen, aufkommendem Faschismus und Intoleranz im Zwischenmenschlichen wie in der Politik macht es total Sinn, den Kindern so eine individuell pädagogische Botschaft mit auf den Weg zu geben. Das Happy End ist dann vielleicht etwas zu triefend geraten – aber wo, wenn nicht im Märchen, darf es so etwas schon geben?
Info
„Hänsel a Gréidel“ von Cosimo Suglia. Regie: Daliah Kentges. Frei nach dem Märchen der Gebrüder Grimm. Dauer: 70 Min. (keine Pause). Auf Luxemburgisch. Mit Audiodeskription. Premiere war am 14. Dezember 2025 im Grand Théâtre. Keine weiteren Vorstellungen.
De Maart
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